Fix und fertig – Die ermüdete Gesellschaft

Folge: 60 Erstausstrahlung am 23. Oktober 2011 | Die Gäste: Dr. Manfred Lütz (Psychiater, Psychotherapeut und Bestseller-Autor), Elke Schmitter (Journalistin und Schriftstellerin)

Das Thema

Fix und fertigBankenpleiten, Eurokrise, Rezessions- und Inflationsangst, politische Wirren, globaler Terror, selbst die von vielen als rätselhaft bedrohlich empfundene Digitalisierung der Welt – immer mehr Menschen fühlen sich, auch und vielleicht gerade auf der relativen Wohlstandsinsel Deutschland, Geschwindigkeit und Leistungsanforderung der Moderne nicht mehr gewachsen. Sie leiden zunehmend unter Verlust- und Versagensängsten und vermeinen, ihr Leben nur noch unter dem Damoklesschwert des persönlichen Scheiterns und des gesellschaftlichen Untergangs zu führen. Sie sind ausgelaugt, sie sind fix und fertig.

Kein Wunder also, dass sich in den modernen Gesellschaften, wo der Einzelne mehr als je zuvor auf sich selbst gestellt ist, die Symptome von Ermüdung und Erschöpfung mehren. Burn-out-Erkrankungen und der Konsum von Aufputschmitteln und Aufhellern aller Art nehmen zu. Ist diese chronische Mattigkeit, so fragt Rüdiger Safranski, eine Folge der strikten Individualisierung, oder gibt es eine Überforderung durch allzu angestrengte Selbstverwirklichung?

Seit längerem schon, so beobachtet Peter Sloterdijk, definieren sich Gesellschaften durch ihre Pathologien – von der guten alten „Nervosität“ und der „Hysterie“ um 1900 bis hin zum aktuellen „Hyperaktivitätssyndrom“ und zum „Burn-out“. Im Spiegel der Volkskrankheiten will sich, so der Philosoph, „das proteische und polymorphe Kollektiv“ selbst erkennen. Folgte man diesen jüngeren Trends, wäre das soziale Selbst von heute vor allem depressiv: Seine Depression entspränge freilich nicht so sehr endogenen Ursachen – seien es angeborene Defekte oder unverarbeitete Verluste; sie wären vielmehr das Ergebnis von chronischer äußerer Überforderung. Der heutige Mensch wäre demnach, wollte man den populären Diagnosen folgen, ein Wesen im permanenten „malignen“, also krankmachenden Stress. Während der so genannte gute Stress („Eustress“) das Individuum ins Optimum seiner Leistungsfähigkeit versetzt, wirkt der schlechte („Disstress“), wie er sich etwa in endlosen Sorgen äußert, auf Dauer persönlichkeitszerrüttend; der Einzelne verliert so die Fähigkeit zur Regeneration. Wo dieses Vermögen beschädigt ist, wird selbst die Unterhaltung zur Belastung. Die Therapie besteht darin, dem Ausgebrannten die künstliche Sorglosigkeit einer „Kur“ zu verordnen.

Aber kann, was dem Einzelnen gut tun mag, auch einer Erschöpfungsgemeinschaft, einer Müdigkeitsgesellschaft auf die Beine helfen? Oder braucht es hier Therapien ganz anderer Art? Darüber, über Befund und Therapie, diskutieren Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski mit dem für seine unkonventionellen, darum stets lösungsorientierten Therapien bekannten Psychiater, Psychotherapeuten und Bestseller-Autor Manfred Lütz und der Journalistin, Schriftstellerin und Gesellschaftskritikerin Elke Schmitter.

Die Gäste

Bildschirmfoto 2014-11-13 um 20.32.44Elke Schmitter, 1961 in Krefeld geboren, ist eine Frau der Sprache und der Fakten. Was sie vor allem sei, Schriftstellerin oder Journalistin, will sie ihr Publikum entscheiden lassen. Nach einem Philosophie-Studium in München, an der Maximilians-Universität und der Hochschule der Jesuiten, arbeitete sie zweieinhalb Jahre als Lektorin beim S. Fischer Verlag Frankfurt. Schon bald aber lockte das journalistische Schreiben: Sie wechselte in die Redaktion der Berliner Tageszeitung (taz), die sie von 1992 bis 1994 als Chefredakteurin leitete. Anschließend schrieb sie frei für große Blätter wie Die Zeit, die Süddeutsche Zeitung und die FAZ. Seit 2001 gehört sie der Kulturredaktion des „Spiegel“ an, wo sie vornehmlich als Essayistin und so präzise wie kritische Beobachterin des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens hierzulande hervortritt. Früh schon begann sie auch ihr literarisches Schaffen zu veröffentlichen. Sie debütierte 1982 mit einem Gedichtband, legte 1998 Essays zu Heinrich Heine vor und hatte im Jahr 2000 ihr von der Kritik mehr als nur zustimmend aufgenommenes Romandebüt mit der Liebes- und Ehebruchsgeschichte „Frau Sartoris“, die bis heute in siebzehn Sprachen übersetzt wurde. Es folgten zwei Romane, „Leichte Verfehlungen“ (2002) und „Veras Tochter“ (2006), ein Lyrikband sowie „Leidenschaften. Eine weibliche Literaturgeschichte in 99 Porträts“ (2009; mit drei Ko-Autorinnen). Elke Schmitter ist Trägerin des Niederrheinischen Literaturpreises, sie war Stipendiatin des Deutschen Literaturfonds. Sie lebt in Berlin.

Bildschirmfoto 2014-11-13 um 20.31.54Manfred Lütz, 1954 in Bonn geboren, versammelt in seiner Person gleich drei Leidenschaften. Er ist Arzt, katholischer (Diplom-)Theologe und Schriftsteller, genauer: Bestseller-Autor. Nach seinem Studium der Medizin, der Philosophie und der Theologie in Bonn und Rom wurde er 1979 als Arzt approbiert und 1981 an der Universität Bonn mit einer medizinischen Dissertation promoviert. Ein Jahr darauf erlangte er sein Diplom in Katholischer Theologie. Nach dem Facharzt für Nervenheilkunde erwarb er auch die Befähigung zum Psychiater und Psychotherapeuten. Seit 1997 ist er Chefarzt des Alexianer-Krankenhauses in Köln-Porz. Seine Therapieansätze gelten als strikt patientenbezogen und lösungsorientiert. Lütz ist Mitglied des Päpstlichen Rates für die Laien, Direktoriumsmitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben und Berater der Vatikanischen Kleruskongregation. Als Schriftsteller bedenkt er immer wieder beide Schwerpunkte seines beruflichen Lebens, gern auf humorvoll-ironische, gleichwohl stets seriöse Weise. Berühmt wurde er mit zwei Büchern, die beide zu Bestseller-Ruhm kamen: „Gott. Eine kleine Geschichte des Größten“ (2007) und „Irre! Wir behandeln die Falschen – unser Problem sind die Normalen: eine heitere Seelenkunde“ (2009). In diesem Buch, das aufklärerisch und anrührend Patientenschicksale erzählt, erkannte die Kritik ein Manifest „gegen die Tyrannei der Normalen“. Zuletzt erschien von Manfred Lütz „Lebenslust in unlustigen Zeiten“ (2010). Lütz wurde mit dem internationalen Literaturpreis „Corine“ (2008) ausgezeichnet sowie mit dem Bonner „Bröckemännche-Preis“ (2011) für erfolgreiches Wider-den-Stachel-Löcken. Er ist Ritter des Gregorius-Ordens. Er lebt bei Bonn.