Folge: 62 | Erstausstrahlung am 18.09.2011 | Die Gäste: Joschka Fischer (Bundesaußenminister a.D.) und Juli Zeh (Schriftstellerin)
Das Thema
Kaum ist der Euro zehn Jahre alt, da ist er schon tief in der Krise, tiefer als je zuvor. Seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers 2008 ist er allen milliardenschweren Rettungsaktionen der Gemeinschaft zum Trotz den Zonen akuter Gefährdung nicht wirklich entkommen. Und mit den verzweifelten Stützungsanstrengungen für den maroden griechischen Staatshaushalt durch die Länder der EU wird nicht mehr nur der Euro als gemeinsames Zahlungsmittel kritisch hinterfragt, sondern mit ihm die ganze europäische Idee. Taugt der Euro noch als populäres Bindemittel für die Menschen der in der Union versammelten Nationen, kann er Zusammengehörigkeit und gemeinsame politische und ethische Werte noch ungebrochen symbolisieren?
Die anhaltende Krise bietet wohl Anlass genug, einen Rückblick auf die Europa-Idee zu werfen und einen Ausblick darauf zu wagen, was aus ihr allenfalls werden könnte. Es war gewiss richtig, nach den zerstörerischen Kriegen in Europa nach Wegen zu einer Friedensunion zu suchen, auch nach einer festen Einbindung Deutschlands darin. Dabei war man ziemlich erfolgreich. Zugleich aber entwickelte sich, besonders in Deutschland, eine Europa-Ideologie. Wer zum Beispiel frühzeitig Skepsis gegenüber der Einführung des Euro äußerte, wurde schnell als Feind Europas gebrandmarkt. Wer die unterschiedlichen politischen Kulturen in Europa geltend machen wollte, dem wurde mit dem Vorwurf des Rückfalls in den Nationalismus begegnet. Nicht erst seit der Finanz- und Schuldenkrise wurden die Maßnahmen oft als „alternativlos“ im Blick auf die Realisierung eines geeinten Europas hingestellt.
Ist es nicht höchste Zeit, so fragen Peter Sloterdijk und Rüdiger Safranski, sich diesem erpresserischen Mechanismus, diesen Denkzwängen zu entziehen? Muss die Europa-Idee auf den Prüfstand? Wie werden die beiden Gäste der Philosophen reagieren, die Schriftstellerin Juli Zeh und der Ex-Außenminister und heutige politische Beobachter Joschka Fischer, beide bisher überzeugte Verfechter eines geeinten Europas und zugleich befähigt zu präzisem Blick auf die Realität? Vor kurzem hat Altbundeskanzler Helmut Kohl als einer der Gründerväter des Euro noch einen beschwörenden Appell an die Politiker gerichtet, in ihren europäischen Überzeugungen nicht nachzulassen. Zu fragen ist aber: Schadet die Fixierung auf den Euro der Europa-Idee? Schafft sie nicht die Gefahr neuer Verfeindungen? Europa ohne Euro – nicht mehr als nur Spekulation? Wäre in diesem Sinn nicht weniger Europa in Wirklichkeit mehr Europa?
Die Gäste
Juli Zeh, 1974 in Bonn geboren, zählt in die erstaunliche Reihe junger deutscher Schriftstellerinnen, die der „Spiegel“ einmal als „Fräuleinwunder der deutschen Literatur“ erkannte. Nach dem Abitur begann Juli Zeh ein Jurastudium, das sie in Passau, Krakau, New York und Leipzig mit den Schwerpunkten Völkerrecht und Nation Building absolvierte. 1998 legte sie in Leipzig das Erste, 2003, nach einem Praktikum bei den UN in New York, das Zweite juristische Staatsexamen ab. Ihre Dissertation gilt völkerrechtlichen Fragen des Kosovo. Noch während ihres Studiums belegte sie Vorlesungen am Deutschen Literaturinstitut Leipzig, ihr Diplom erhielt sie im Jahr 2000. Ihr Debüt-Roman „Adler und Engel“ erschien 2001 und wurde bis heute in achtundzwanzig Sprachen übersetzt. Danach publizierte sie in regelmäßiger Folge Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, zuletzt den Roman „Corpus delicti“ (2009) und (gemeinsam mit Ilja Trojanow) „Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürgerlicher Rechte“. Nahezu alle ihre Werke sind durchzogen von Gedanken um den Antagonismus, von Chaos und Ordnung, von flüchtigem Zusammenhalt und den Normen einer auf Individualisierung und Globalisierung beruhende Gesellschaft, die keine Verantwortlichkeit für die Zukunft einer Weltgemeinschaft mehr erkennen lässt. Juli Zeh ist im Tierschutz engagiert. Ihr schriftstellerisches Werk ist bis heute vielfach ausgezeichnet worden – vom Caroline-Schlegel-Preis für Essayistik (2000) bis zum Carl-Amery-Literaturpreis und dem Solothurner Literaturpreis (beide 2009). 2010 wurde sie mit der Tübinger Poetik-Dozentur betraut. Sie lebt in einem Dorf im brandenburgischen Havelland.
Joschka Fischer, 1948 in Gerabronn/Baden-Württemberg als Sohn ungarndeutscher Eltern geboren, hat eine der erstaunlichsten politischen Karrieren in Deutschland gemacht. Vom Frankfurter Sponti-Straßenkämpfer zum Chef des Berliner Außenamts, vom hessischen „Turnschuh-Minister“ zum europäisch-atlantischen Vordenker: die ungewöhnliche biografische Spanne hat Fischer, der einst das Cannstatter Gymnasium vorzeitig ohne Abitur verließ und sich lange mit Gelegenheitsarbeiten durchschlug, mit hellwachem Intellekt, rastloser Lektüre der philosophischen und politischen Klassiker, immensem Fleiß und einem unwiderstehlichen Bedürfnis nach Teilhabe am politischen Prozeß bewältigt. Der noch umstrittene Jungstar der „Grünen“, der seine Partei auf marktwirtschaftlichen und realpolitischen Kurs brachte, bestand seine ersten politischen Herausforderungen als hessischer Landesminister für Umwelt und Energie (1985 – 1987); als Bundesaußenminister und Vizekanzler in zwei Regierungen Schröder (1998 – 2005), in der er die deutsche Beteiligung am völkerrechtlich umstrittenen Kosovo-Krieg bejahte, konnte er sich internationale Anerkennung und in Deutschland den Ruf des beliebtesten Politikers erwerben. Nach dem Ende seiner aktiven Politiker-Laufbahn hat Fischer ein Jahr an der amerikanischen Princeton University über Internationale Krisendiplomatie gelesen. Heute führt er in Berlin eine Consulting-Firma (RWE, OMV) und ist Vorsitzender des Beirats des European Council on Foreign Relations, einem hochrangig besetzten, privat finanzierten Netzwerk für einen gemeinsamen strategischen und außenpolitischen Diskurs in Europa.??Fischer wurde vielfach ausgezeichnet, so mit den Ehrendoktorwürden der Universität Haifa (2002) und Tel Aviv (2006), dem Schweizer Gottlieb-Duttweiler-Preis (2004) sowie dem Leo-Baeck-Preis des Zentralrats der Juden in Deutschland (2005).?? 2010 wurde er mit der Heinrich-Heine-Gastprofessur der Universität Düsseldorf geehrt. Auch publizistisch hat Fischer rege Wirksamkeit entfaltet. Neben zahlreichen dezidiert politischen Schriften hat er auch Autobiografisches vorgelegt, so 2003 den Bestseller „Mein langer Lauf zu mir selbst“ und 2007 den ersten Band seiner Erinnerungen „Die Rot-Grünen Jahre“.? In der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht er regelmäßig politische Analysen.