350 Seiten • Verlag Hanser
Inhalt
Autobiographien der zwanziger Jahre
Lebensgeschichtliches Erzählen ist eine Form sozialen Handelns, denn die Autobiographie bildet eine literarische Gattung, in der einzelne ihre Lebenserfahrung organisieren, indem sie ihr individuelles Leben in einen Zusammenhang mit öffentlichen Interessen, Sinnbedürfnissen und Neugierden stellen. Wie sprechen einzelne Menschen nun über sich selbst und ihre Lebensläufe im 20. Jahrhundert, in einer Zeit, die geprägt ist gerade vom Verfall des bürgerlichen Individualismus?
In diesen Analysen zu neueren »Sozialgeschichte des öffentlichen Redens über das eigene Leben« wird gezeigt, wie die Arbeit der nachträglichen Sinngebung und Rechtfertigung das lebensgeschichtliche Erzählen durchzieht und daß in den bürgerlichen und proletarischen Lebensberichten aus der Zeit der Weimarer Republik eine heimliche »Protopolitik der Erfahrung« wirksam ist: In ihr organisiert und verallgemeinert das Bewußtsein die viralen Erlebnisse von Schmerz, Konflikt und Widerspruch. Ob in der Beschwörung der Kindheit und in der Vergegenwärtigung kindlicher Erfahrungsstrukturen, ob in der Erinnerung an Krisen und experimentellens Leben der Jugendzeit oder in den Berichten vom Erlebnis des Krieges, von Gefängnis, Irrenhaus, Bohemejahren, seelischer Krankheit und Reisen – stets geht es um die Dialektik der Erfahrung, die Arbeit des Bewußtseins zwischen individulelem Erleben und dem Begreifen nach öffentlichen Normen. Ideologische Verengung oder offenes, dialektisches Lernen an den Erfahrungen der Widersprüche kennzeichnen die autobiographischen Entwürfe der Weimarer Zeit.
Der erste Teil der vorliegenden Arbeit stellt Begriff sowie Entstehung und Entwicklung der Gattung »Autobiographie« das. Im Hauptteil arbeitet Sloterdijk anhand zahlreicher Beispiele bestimmte Muster der literarischen »Organisation von Lebenserfahrung« heraus und zeigt die Kriterien, nach denen sich Lebenslaufstrukturen in Literatur umsetzen und wie das literarische Subjekt Alltagswissen, Erinnerungen an die eigene Entwicklungsgeschichte, psychische Konflikte und öffentliche Probleme in einen Literarischen Sozialisationsversuch überträgt.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Einleitung
Literatur als Organisation von Lebenserfahrung: zum Erkenntnisinteresse an modernen Autobiographien
Erster Teil: Die Autobiographie. Literarische Gattung und Formen der Erfahrung
Kapitel I: Begriff der Gattung und historische Vorraussetzungen. Zur Sozialgeschichte des öffentlichen Redens über das eigene Leben
A. Stichworte zu Entstehung und Entwicklung der Autobiographie
1. Literatursoziologischer Ansatz? Individualismus als Leitbegriff
2. Probleme der Gattungsfrühgeschichte: Mystik, Reiseliteratur, bürgerliche Hausbücher
3. Traditionale und typologische Reihe; Ruhm und Selbstdarstellung
4. Zwei Varianten zur Erklärung der Gattungsgenesis
5. Grundsätze einer künftigen Sozialgeschichte des lebensgeschichtlichen Erzählens
6. Skizze vom Barock bis zum 20. Jahrhundert
B. Zur Struktur vom Exempel und Dokument
1. Religiöse Vita als Exempelliteratur; Seuse
2. Modelle: Karl IV., Blaise de Monluc, Agrippa d’Aubigné
3. Logische Struktur des Exempels; Strukturwandel exemplarischen Erzählens
4. Dialektik von Moral und Geschichte
5. Das dokumentarische Schema; Beispiele
6. Lebensgeschichte und allgemeine Geschichte; drei Merkmale des dokumentarischen Schemas
7. Begriffserklärung
Modell 1: Bruno H. Bürgel: Ein ideologisches Exempel: Vom Arbeiter zum Astronomen
Modell 2: M. J. Bonn: Historisches Dokumentieren aus skeptischem Bewußtsein
Kapitel II: Lebenslaufstrukturen. Formung der Subjektivität und Organisation lebensgeschichtlichen Wissens
A. Lebenslaufstrukturen im Alltagswissen
Modell 3: Richard Voß: Jahreszeiten des Lebens oder Krisenzyklus
Sozialisation und Idividuation. Amnesieproblem. Pseudoperiodisierung. Abweichende Lebensläufe
Modell 4: Ernst von Wolzogen: Massenbiographie des Herdenmenschen – einsame Wege des Herrenmenschen
B. Modelle des biographischen Prozesses
1. Das dialektische Schema des Bildungsromans
2. Charlotte Bühlers biologischer Ansatz
3. Forderungen an das Modell
4. Eriksons Phasen-Konflikt-Modell
C. Zeitpläne, Tätigkeitskategorien und »Tiefenbiographik«
1. Zusammenhänge zwischen Konflikttheorien und Biographik
2. Tätigkeitskategorien; einfache und erweiterte Reproduktion der Persönlichkeit
3. Lucie Sève: »Grundwidersprüche des persönlichen Lebens«
D. Große Individuen. Das gesellschaftliche Interesse an Lebensgeschichten
Individualismus; Geniebegriff. Abstrakte zeit und Entwicklungszeit
Modell 5: Richard Voß: Reiches Leben und geistiger Besitz
Exkurse
Exkurs A: Über Selbstreflexion in der Lbeensgeschichte und Stör-Erfahrungen
Exkurs B: Dialektisches Lernen: Organisation von Widersprüchen
Exkurs C: Erfahrungsäthetik als Aufhebung des Gegensatzes zwischen individualistischer und politischer Fundierung von Literatur
Zweiter Teil: Zur Protopolitik der Erfahrung
Kapitel I: Kindliche Erfahrungsorganisation in Autobiographien. Modelle protopolitischer Erinnerung
1. Erste Bilder
2. Zum Aufbau kritischer Erfahrungsstrukturen
Modell 6: Ernst Toller: Der Kaiser als Mythos. Form kindlicher Denkbewegung
Modell 7: Ernst Toller: »Das ist ein Jude« – protopolitisches Trauma. Kindergrammatik
Weitere Beispiele von Ernst Toller und Theodor Lessing
3. Merkmale kindlicher Subjektivität, kindlicher Umwelten und ihre Modellierung
Modell 8:Klaus Mann: Kinderangst. Erfahrung und literarische Stilisierung
Naturbilder. Kindheit als Utopie. Schuleintritt als Lebenszäsur
4. Umrisse proletarischer Kindheitsdarstellungen
Modell 9: Ludwig Turek / Klaus Mann: Proletarisches Stehlen und pubertärer Amoralismus
Kindheit bei Marx Hoelz, Alois Lindner. Proletarische Amnesie
Kapitel II: Pubertät, Adoleszenz. Die Arbeit des Bewußtseins zwischen Erfahrung und Lebensentwurf
1. Überwindung der Shcule? Ideologische Rebellion. Martens, Blüher, Voß. Trotzkis Protestbasis
2. Internatsgeschichten
Modell 10: Kurt Martens: Internat als Vorhölle der Gesellschaft. Erlittene Repression – aristokratische Fassade
Modell 11: Klaus Mann: Auf dem zauberberg der Pubertät
Kapitel III: Experimentelles Leben. Spätpubertät als psycho-soziales Momentum
1. Der Übergang von der höheren Schule zur Universität. Zum Transfer von Konfliktpotentialen. Gradlinige Studiengänge späterer akademischer Honoratioren. Eucken, Föppl
2. Innerfamiliäre Opposition
Modell 12: Carl Ludwig Schleich: Das »Zwei-Seelen-System«. Kampf zwischen Abweichung und integration. Literarische Rebellion
Modell 13: Max Halbe: Ein Rebell wird konservativ. Rücknahme protopolitischer Entwürfe
Modell 14: Ernst Toller: Selbstzweifel eines Privilegierten. Ein protopolitischer Denkprozeß
3. Das psycho-soziale Moratorium: Reifungsfreiraum für bürgerliche Individuen
Modell 15: Hermann Bahr: Die wilden Jahre als existentielles trial-and-error-Verfahren
Modell 16: Stefan Großmann: Familiäre Auflehnung und gesellschaftliche Revolte
Modell 17: Max Hoelz: Kriegserfahrung eines Proletariers; Phasenmodell eines Lernprozesses von protopolitischer Erfahrung bis zu revolutionärer Praxis
Kapitel IV: Orte der Abweichung: Gefängnis, Irrenhaus, Bohème
I. Biographische Anomalien
Modell 18: Kurt Martens, Oskar A. H. Schmitz: Krieg als Eingriff in Privatlebenspläne
2. Negative Technologie gesellschaftlicher Abweichung: Gefängnis, Irrenanstalt
Modell 19: Max Hoelz: Ein politischer Überlebenskampf
Modell 20: Ernst Toller: Gefängnisberichte als Selbstreflexion eines utopischen Humanisten
Modell 21: Oskar Maria Graf: Gehorsamsverweigerung bis an die Grenze der Selbstaufgabe
3. Boheme-Leben, cuuicular betrachtet
Modell 22: Oskar Maria Graf: Flucht in die Anacho-Boheme.Politisierter Trotz
Modell 23: Kurt Martens: Ein »linkes« Erfahrungspotential wird von einer »rechten« Lebensform neutralisiert
Kapitel V: Seelische Krankheiten als Provokation dialektischen Lernens
1. Zusammenhang zwischen Seelenkonflikten und Sozialkonflikten
2. Dialektik der Neurose
Modell 24: Richard Voß: Seelische Krankheit in vor-psycho-analytischer Zeit
Modell 25: Oskar A. H. Schmitz: Eine Psychotherapie bei Abraham. Individualismus und Narzißmus. Gescheitert Analyse – irrationalistische Reaktion
3. Neurotische Manifestation bei bürgerlichen Autoren
Modell 26: Theodor Lessing: Ausbruch aus dem egozentrischen Zirkel der Neurose
4. Ein Hauptweg neurotischer Selbststilisierung: Kulturproduktion
Modell 27: Hermann Stegemann: Beschäftigung mit der objektiven Katastrophe (1. Weltkrieg) als Bewältigung der subjektiven
Modell 28: Jakob Wassermann: Das jüdische Außenseiter in ideologischer Fesselung an die bürgerliche Gesellschaft
Analoge Strukturen bei Richard von Kralik, Rudolf G. Binding, Max Halbe
Dritter Teil: Erfahrung und Sinnarbeit. Zur Konstruktion von Bedeutung und Geschichten des eigenen Lebens
Kapitel I: Sinnsysteme in der Weimarer Autobiographik
1. Dimensionen des Sinnbegriffs
2. Anwendungsbeispiele
Modell 29: Max Halbe: Autobiographie als nachträgliche »Traumdeutung«
Modell 30: Oskar A. H. Schmitz: Der Weg ist alles, das Ziel nichts. Mißlingenes Lbeen, dennoch sinnvoll
3. Sinngebung durch Lebensplanung: Karriere- und Kampflebensläufe
Modell 31: Alexandra Kollontai: Unterordnung des Lebenslaufs unter sichere sozialistische Prinzipien
Modell 32: Rudolf Eucken: Lebenseinheit durch Ausbildung und Propagierung einer Weltanschauung
4. Faktizität, Sinngebung und »Kampf« als Verhalten zu unerträglichen Sinnmangel
Modell 33: Ernst von Wolzogen: Verquickung von privaten und politischen Krisen – Flucht aus der erotischen Katastrophe in den Krieg
5. Sinnproduktion durch Einbettung der Lebensgeschichte in National-, Welt- und Kulturgeschichte
Kapitel II: Mythologie des Individuums. Aus der Verfallsperiode des Individuums
1. Monadologie: Mythen des gefestigten Ich, Stirnerscher Solipsismus. Beispiel von Houston Stewart Chamberlain, Max Halbe, Carl Benz, John henry Mackay, Arthur Holitscher
2. Vitalistische Mythologie. Leben als Leiden
Modell 34: Lou Andreas-Salomé: Schichten von Grunderlebnissen
Modell 35: Rudolf G. Binding: Erlebniskultur als peotischer Solipsismus
Pessimistische Grundgefühle bei Theodor Lessing, Kurt Martens, Arthus Holithscer. Bürgerliche proletarische Leidenserfahrung
Kapitel III: Zur Logik der Repräsentation. Selbstdarstellung als Tateneinheit von Publizieren und Verallgemeineren
1. Die beiden logischen Grundfiguren: das Symptom-System-Schema und das Fall-Typus-Schema
2. Kontrast bürgerlicher und proletarischer Repräsentanz
Modell 36: Friedrich Meinecke: Das Geheimnis des geschichtlichen Lebens, Tropen im Strom der Zeit
Modell 37: Max Hoelz: Biographische Solidarität: »Tausend erleben dasselbe wie ich«
Schöußüberlegung
Anhang
I. Anmerkungen
1. Teil
2. Teil
3. Teil
II. Bibliographie
1. Sammlungen und bibliographische Hilfsmittel
2. Quellen
A. Zur Gattungsgeschichte von der Epoche der Weimarer Republik
B. Zur Weimarer Autobiographik
3. Sekundärliteratur
4. Zur Zeitgeschichte, Psychologie, Sozialpsychologie, Literaturwissenschaft, Philosophie