Über Bürgerausschaltung in Demokratien
Wann immer Politiker und Politologen sich über den Zustand einer modernen res publica Gedanken machen, drängen Reminiszenzen an das alte Rom sich auf. Das widerfuhr auch jüngst dem glücklosen deutschen Außenminister, als er, um den in seinen Augen allzu üppigen Sozialstaat unseres Landes zu kritisieren, auf den Gedanken verfiel, die heutigen Verhältnisse mit den Niederungen der „römischen Dekadenz“ zu vergleichen. Welche Vorstellungen er hiermit verband, konnte nie genau ermittelt werden. Vielleicht waren dem Gast an der Spitze des Auswärtigen Amts vage Erinnerungen an das System des kaiserzeitlichen Plebs-Managements durch Gladiatorenspiele in den Sinn gekommen, möglicherweise dachte er auch an die obligatorischen Getreidespenden für die arbeitslosen Massen der antiken Metropole. Beides wären Nachklänge des hastigen Geschichtsunterrichts, den die meisten deutschen Gymnasiasten des Jahrgangs 1961 (Westerwelle u. a.) genossen. Sie enthalten nichts, was zu Besorgnis Anlaß gäbe.
Immerhin, der Hinweis auf die „römische Dekadenz“ im Mund eines deutschen Politikers war nicht nur ein Symptom von standesgemäßer Halbbildung. Er war auch nicht bloß ein Symptom von verbalem Draufgängertum, das bei einer gewissen Klientel Eindruck machen sollte. Er enthielt eine Reihe von gefährlichen Implikationen, denen der Redner ohne Zweifel ausgewichen wäre, hätte er sie sich bewußt gemacht. Das römische Brot-und-Spiele-System war ja nicht weniger gewesen als die erste Ausgestaltung dessen, was man seit dem 20. Jahrhundert als „Massenkultur“ bezeichnet. Es symbolisierte die Wende von der gravitätischen Senatorenrepublik zum postrepublikanischen Theaterstaat mit einem kaiserlichen Mimen im Zentrum. Dieser Übergang war unausweichlich geworden, seit das römische Imperium nach seiner Konversion zur caesarischen Monarchie mehr und mehr auf die Eliminierung von Senat und Volk aus der Regelung der öffentlichen Angelegenheiten zusteuerte. In dieser Sicht war die vielzitierte römische Dekadenz nichts anderes als die Kehrseite der politischen Bürgerausschaltung, die mit der Machtübernahme durch eine Junta von imperialen Berufspolitikern einherging. Sie ist nur angemessen zu begreifen, wenn man in ihr das Symptom der Auflösung von republikanischem Leben in Verwaltung und Unterhaltung erkennt. Während die Reichsverwaltung sich zunehmend in Formalien verstrickte, setzte sich auf der Seite der Unterhaltung – namentlich in den Arenen rund um das Mittelmeer und bei den Festen der metropolitanen Oberschicht – der Trend zur Verrohung und Enthemmung durch. Das Miteinander von Verwaltungsstaat und Unterhaltungsstaat antwortete auf einen Weltzustand, in dem die Machtausübung nur noch durch die weitgehende Entpolitisierung der Reichspopulationen gesichert werden konnte. Mochten auch die Caesaren ihre Dekrete nach wie vor mit der geheiligten Formel „Senat und Volk von Rom“ (SPQR) absegnen – es stand doch fest, daß beide Instanzen so gut wie völlig entmachtet waren.
Das Spiel mit römischen Reminiszenzen rührt früher oder später an gefährliche Materie. Wer Rom erwähnt, sagt zugleich res publica, und wer von dieser spricht, sollte nicht versäumen, nach dem Geheimnis ihrer Anfänge zu fragen. Versuchen wir also zu erklären, wie es kam, daß die exemplarische „öffentliche Sache“ Alteuropas mit einem bedenkenswerten Affektsturm begann: Der Sohn des letzten römisch-etruskischen Königs, Tarquinius Superbus junior, war auf die Reize einer jungen römischen Matrone namens Lucretia aufmerksam geworden, nachdem er durch die Prahlereien ihres Gatten Collatinus von deren Schönheit und Sittsamkeit erfahren hatte. Offensichtlich wollte er nicht hinnehmen, daß ein Untergebener erotisch glücklicher sein sollte als er selbst, der Sproß aus königlichem Haus. Der Rest ist dank Livius Weltgeschichte und dank Shakespeare Weltliteratur: Der junge Tarquinius dringt in Lucretias römische Wohnung ein und nötigt sie durch eine infame Erpressung, in ihre Vergewaltigung einzuwilligen. Nach der erlittenen Entehrung ruft die junge Frau ihre Verwandten zusammen, berichtet ihnen von den Vorfällen und erdolcht sich vor den Augen der Versammelten. Eine beispiellose Welle der Erschütterung verwandelt nun das harmlose Hirten- und Bauernvolk der Römer in eine revolutionäre Menge. Tarquinius Superbus wird vertrieben, die etruskische Vorherrschaft ist für immer beendet. Nie wieder werden Hochmütige an der Spitze des Gemeinwesens geduldet sein. Der Name des Königs wird für alle Zeiten geächtet – nicht nur ad personam, sondern im Hinblick auf die monarchische Funktion als solche.
Aus der Konvulsion der Bürger erwächst eine folgenschwere Idee: Die Gemeinwesenlenkung wird künftig allein von Römern ausgeübt werden, sie wird pragmatisch und profan erfolgen. Zwei Konsuln halten sich gegenseitig in Schach, ihre jährliche Neuwahl beugt jeder erneuten Verwechslung von Amt und Person vor. Der religiöse Überbau implodiert, bis auf die Staatsorakel, ohne dies es auch in der Republik nicht geht; für immer bleibt die königliche Superbia verbannt. Die produktiven Energien des Hochmuts werden auf das Format des Strebens nach Ansehen durch Vortrefflichkeit zurückgeschraubt, wie in Meritokratien üblich. Aufgrund dieser Beschlüsse setzt sich im Jahr 509 vor Christus die am klügsten konstruierte republikanische Maschine der Menschheitsgeschichte in Gang; durch die nachträgliche Hinzufügung des Volkstribunenamts erlangt sie einen unüberbietbaren Grad an Effizienz. Eine Erfolgsstory ohnegleichen beginnt, bis, fast ein halbes Jahrtausend später, die Überdehnung des römischen Machtkomplexes den Übergang zu neo-monarchischen Verhältnissen erzwingt.
Eine bedeutsame Information sollte der heutige Leser dieser Geschichte festhalten: Die Lucretia-Legende handelt von der Geburt der res publica aus dem Geist der Empörung. Was man später Öffentlichkeit nennen wird, ist anfangs ein Epiphänomen des Bürgerzorns. Aus dem Unmut der zusammenströmenden Menge bildete sich das erste Forum. Die erste Tagesordnung umfaßte nur einen einzigen Punkt: die Zurückweisung einer herrscherlichen Infamie. Aus ihrer synchronen Erregung über den zügellosen Hochmut der Machthaber lernten die einfachen Leute, daß sie von nun an Bürger heißen wollen. Der consensus, mit dem alles anfängt, was wir bis heute öffentliches Leben nennen, war die zivile Einmütigkeit hinsichtlich eines unerträglichen Affronts gegen die ungeschriebenen Gesetze des Anstands und des Herzens.
Um das Entscheidende noch einmal zu sagen: Was wir jetzt mit dem griechischen Ausdruck „Politik“ umschreiben, ist ein Derivat des Ehrsinns und der stolzen Regungen gewöhnlicher Menschen. Für das Spektrum der stolzverwandten Affekte hält die alteuropäische Tradition den Ausdruck thymós bereit. Auf der thymotischen Skala der menschlichen Psyche erklingen viele Töne – von Jovialität, Wohlwollen und Generosität über Stolz, Ambition und Trotz bis hin zu Empörung, Zorn, Ressentiment, Haß und Verachtung. Solange eine politische Kommune von ihrem Stolzzentrum her gelenkt wird, stehen Fragen von Ehre und Ansehen im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Die Unverletztheit der zivilen Würde gilt als höchstes Gut. Der öffentliche Argwohn wacht darüber, daß Arroganz und Gier, die immer virulenten Hauptmächte der Gemeinheit, in der res publica niemals die Oberhand gewinnen.
Es dürfte klar sein, warum es nicht unverfänglich ist, in unseren Tagen von römischer Dekadenz zu sprechen und aktuelle Zustände mit ihr gleichzusetzen. Wer so redet, bekennt sich implicite zu der Auffassung oder der Befürchtung, daß auch auf die moderne Republik – wie sie vor gut zweihundert Jahren aus dem monarchiekritischen Zorn der Amerikanischen und Französischen Revolutionen hervorgegangen war – zu gegebener Zeit eine postrepublikanische Phase folgen werde. Typischerweise wäre auch diese durch das erneute Miteinander von Brot und Spielen charakterisiert, oder, um zeitgemäß zu reden, durch eine Synergie von Sozialstaat und Sensationsindustrie. Es läßt sich nicht leugnen, daß die Vorboten solcher Doppelwirtschaft allgegenwärtig sind. Lesen wir nicht seit geraumer Weile die Zeichen, die für die Rückentwicklung des öffentlichen Lebens auf Administration und Entertainment sprechen – Wärmedämmung für Ministerien und Casting-Shows für Ambitionen? Hat nicht der von Großbritannien ausgehende Diskurs über „Postdemokratie“, also der Gedanke, daß Bürgerbeteiligung durch die höhere Kompetenz politischer Spitzenentscheider eingespart werden kann, diskret die Parteizentralen und soziologischen Seminare in der westlichen Hemisphäre erobert? Sind nicht Unzählige schon wieder existentiell in Deckung gegangen, wie einst die antiken Stoiker und Epikuräer, und haben sich darauf eingerichtet, daß Bürokratie, Spektakel und private Sammlungen jetzt die letzten Horizonte markieren?
Man könnte aus diesen Beobachtungen den vorschnellen Schluß ziehen, die postdemokratischen Tendenzen hätten sich in der Dämmerung der zweiten republikanischen Ära, die wir die politische Moderne nannten, bereits auf ganzer Linie durchgesetzt. Dann bliebe uns, den Bewohnern der zweiten res publica amissa (des preisgegebenen Gemeinwesens) erneut nichts übrig als das Warten auf die Caesaren – und auf deren billige Ausgaben, die Populisten, sofern Populismus heute den Beweis liefert, daß Caesarismus auch mit Komparsen funktioniert. Also hätte Oswald Spengler mit seiner gefährlichen Suggestion Recht behalten, man müsse Dekadenztheoretiker sein, um als Zeitdiagnostiker auf der Höhe der Phänomene zu stehen?
Doch so anregend rhapsodische Überlegungen dieser Art sein mögen: Wir sind in dieser Angelegenheit besser beraten, wenn wir uns vom Elan der großen Analogie nicht mitreißen lassen. Zwar fehlt es nicht an Hinweisen darauf, daß wir postrepublikanischen und postdemokratischen Zuständen entgegengehen. Deren signifikantestes Symptom, die erneute Bürgerausschaltung durch eine monologisch in sich verschränkte Staatlichkeit, ist heute auf breiter Front zu diagnostizieren. Daß Politik hierzulande immer mehr dem Monolog eines Autistenclubs nahekommt, zeigt die aktuelle Linie der schwarz-gelben Regierung in Fragen der Atomenergie.
Wer aber geglaubt hätte, die Bürgerausschaltung in der zweiten postrepublikanischen Situation werde so reibungslos verlaufen wie nach der Etablierung des antiken Caesaren-Regimes, sähe sich getäuscht. In diesem Punkt ist die historische Analogie nicht schlüssig – aus einem Grund, über den man sich noch immer aus alten Quellen am besten informiert. Die klassischen Autoren Griechenlands besaßen vom Menschen als zugleich erosbewegtem und stolzbewegtem Wesen ein ungleich tieferes Verständnis als die Modernen, weil die letzteren sich mehrheitlich damit begnügten, die menschliche Psyche allein aus der Libido, dem Mangel und dem Habenwollen zu deuten. Zu Fragen des Stolzes und der Ehre fällt ihnen seit über hundert Jahren nichts mehr ein. Folglich nimmt es nicht wunder, wenn heute weder Politiker noch Psychologen Rat wissen, sobald sie es mit öffentlichen Regungen der vergessenen Stolzkomponente im menschlichen Seelenhaushalt zu tun bekommen. Wer sich im Panorama der politischen Unruhen in Europa umsieht, besonders an den deutschen Krisenherden, sollte sich eines möglichst schnell klarmachen: Wenn heute die Bürgerausschaltung trotz aller Aufgebote an Expertokratie und Amüsierkultur nicht ganz gelingt, so darum, weil man die Rechnung ohne den Bürgerstolz gemacht hat.
Mit einem Mal steht er wieder auf der Bühne – der thymotische Citoyen, der selbstbewußte, informierte, mitdenkende und mitentscheidungswillige Bürger, männlich und weiblich, und klagt vor dem Gericht der öffentlichen Meinung gegen die mißlungene Repräsentation seiner Anliegen und seiner Erkenntnisse im aktuellen politischen System. Er ist wieder da, der Bürger, der empörungsfähig blieb, weil er trotz aller Versuche, ihn zum Libido-Bündel abzurichten, seinen Sinn für Selbstbehauptung bewahrt hat, und der diese Qualitäten manifestiert, indem er seine Dissidenz auf öffentliche Plätze trägt. Wie über Nacht ist er wieder unter uns, der unbequeme Bürger, der sich weigert, ein politischer Allesfresser zu sein, duldsam und fern von „nicht hilfreichen“ Meinungen. Lange hatte man ihn nicht mehr gesehen – diesen informierten und empörten Bürger, der plötzlich, man begreift nicht wie, auf den Gedanken verfiel, den Artikel 20, Absatz 2 des Grundgesetzes auf sich selbst zu beziehen, wonach alle Staatsgewalt vom Volk ausgehe. Was ist in ihn gefahren, wenn er das mysteriöse Verfassungsverbum „ausgehen“ als die Anweisung versteht, seine vier Wände zu verlassen, um zu bekunden, was er will und weiß und fürchtet?
In Momenten wie dem gegenwärtigen schadet es nicht, sich darauf zu besinnen, daß die ursprüngliche res publica selbst ein Derivat der psychopolitischen Primäraffekte Stolz und Empörung war. Wie bemerkt, stand an der Quelle des römischen Gemeinwesengefühls die Unwilligkeit, die allzu kraß gewordene Arroganz der Herrschenden länger zu dulden. Trotz aller Differenzen zwischen antiken und modernen Situationen muß man nach dem vergleichbaren Aspekt nicht lange suchen. Auch heute sehen zahllose Bürger Grund, sich über die Anmaßung der Herrschenden zu erregen. Selbst wenn die Anmaßung anonym geworden ist und sich in den sachzwanggetriebenen Systemen versteckt – die Bürger, insbesondere in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler und als Adressaten hohler Reden vor Wahlen, spüren doch hin und wieder deutlich genug, welches Spiel mit ihnen getrieben wird.
Verstehen wir nun, wieso der Traum der Systeme Ungeheuer gebiert? Die Ungeheuer sind die leibhaftigen Bürger, die sich dem postdemokratischen Gebot der Bürgerausschaltung widersetzen. Daß diese plötzliche Renitenz erklärungsbedürftig ist, wird man zugeben. Warum nur können die Leute mit einem Mal nicht auf den ihnen zugedachten Plätzen ruhighalten? Wieso ist auf ihre systemrelevante Lethargie kein Verlaß mehr? Und was ist an ihrer Funktion so schwer zu verstehen? In der repräsentativen Demokratie werden Bürger – von ihren enormen fiskalischen Aufgaben abgesehen – in erster Linie als Lieferanten von Legitimität für Regierungen gebraucht. Deswegen werden sie in weitmaschigen Abständen zur Ausübung ihres Wahlrechts eingeladen. In der Zwischenzeit können sie sich vor allem durch Passivität nützlich machen. Ihre vornehmste Aufgabe besteht darin, durch Schweigen Systemvertrauen auszudrücken.
Begnügen wir uns, um höflich zu sein, mit der Feststellung, daß solches Vertrauen zu einer knappen Ressource geworden ist. Sogar Berliner Hofpolitologen sprechen von der manifesten Entfremdung zwischen der politischen Klasse und der Bevölkerung. Noch scheuen die Experten vor der harten Diagnose zurück, wonach die Politik der nützlichen Entpolitisierung des Volks vor dem Scheitern steht.
An dieser Stelle mag es sinnvoll sein, nachzufragen, wie den Römern der Caesarenzeit ihr Entpolitisierungskunststück gelang, während es den heutigen gewählten Postdemokraten aus den Händen zu gleiten droht. Die Antwort ist umweglos zu finden: Den kaiserzeitlichen Eliten stand über lange Zeit die Möglichkeit offen, den thymotischen Ansprüchen ihrer Bürgerwelt halbwegs brauchbare Ersatzangebote zu machen – trotz handfester Anzeichen postrepublikanischer Dekadenz: Sie verstanden sich darauf, im civis romanus den Stolz auf die zivilisatorischen Leistungen des Imperiums zu wecken; sie banden die Völker der Peripherie durch römische soft power an das Zentrum; sie waren klug genug, den haltlosen Massen in den Städten die Teilhabe am theatralischen Narzißmus des Kaiserkults zu gewähren. Im Vergleich hiermit springt die Hilflosigkeit unserer politischen Klasse in allen Belangen des thymotischen Haushalts ins Auge. Sie hat den Bürgern oft nicht mehr zu bieten als die Aussicht auf Teilhabe an ihrer eigenen Kläglichkeit – ein Angebot, auf das die Bevölkerung in der Regel nur im Karneval und bei Aschermittwochsreden eingeht. Wird die Frage gestellt, wie das breite Volk auf die Performance der Regierenden reagiert, verzeichnen Meinungsforscher seit einiger Zeit am häufigsten die Auskunft: mit Verachtung. Unnötig zu sagen, daß dieses Wort zum elementaren Vokabular der thymotischen Analyse gehört. Wenn die Bezeichnung für den Minuspol der Stolz-Skala so häufig und so heftig gebraucht wird wie zur Stunde, dürfte begreiflich werden, in welchem Maß die psychopolitische Regulierung unseres Gemeinwesens aus dem Ruder läuft.
Der Traum der Systeme gebiert Ungeheuer: Das erleben die Regierenden auf ihre Weise, sobald unzufriedene Bürger sich ihren Projekten und Prozeduren in den Weg stellen. Es überrascht nicht, wenn Verachtung spontan auf Verachtung antwortet. Der unwillkommenen Bürgerdissidenz trat man in Stuttgart und Berlin erschrocken mit Großaufgeboten von Polizei und Schimpfworten entgegen. So also sieht es aus – das dunkle Etwas, von dem alle Staatsgewalt ausgeht? „Berufsprotestierer, Freizeitanarchisten, Stimmungsdemokraten, Altersegoisten, Wohlstandsverwahrloste!“ In diesen Vokabeln faßten die Landesregierung und ihre Alliierten in der Hauptstadt ihre Eindrücke von den Zehntausenden zusammen, die gegen ein zerbröckelndes Großprojekt auf die Straße gingen. Soll man diese Wortwahl dadurch entschuldigen, daß die Sprecher unter Schock standen? Im Gegenteil, man schuldet diesen Politikern Dank, daß sie endlich aussprachen, wie sie über die Bürger denken. Bemerkenswerterweise war ein wichtiger Teil der manchmal seriösen Presse bereit, sich in die bedrängte politische Klasse einzufühlen: „Wutbürger“ nannte man jüngst die neuen Protestierer – was eine kluge Prägung gewesen wäre, hätte sie die Erinnerung an den ursprünglichen Zusammenhang von Empörung und Republik beschworen. Leider diente sie im aktuellen Gebrauch nur dazu, die lästigen Dissidenzfliegen zu verscheuchen. Man sieht jedenfalls: Manche Journalisten wissen, wie sie das Ihre zum Werk der Bürgerausschaltung beizutragen können.
Es sollte nicht bei Verbalattacken gegen das dunkle Etwas bleiben. Mit Schlagstöcken und Tränengas antwortete die verschreckte Kaste auf resolute Argumentierer aus dem Volk, die Unstimmiges in den Plänen für den neuen Stuttgarter Bahnhof entdeckt hatten. Mit der Einleitung eines Parteiausschlußverfahrens reagierte die altehrwürdige SPD auf ein bewährt robustes Mitglied, das unter Aufbietung ausführlicher Beweise Unstimmiges in der deutschen Zuwanderungspolitik aufdeckte – und dabei Tatsachen vortrug, die ohne genetische Begründungsversuche solider dastehen als mit diesen. Beide Male hieß es, man habe sich die notwendigen Reaktionen, das Zuschlagen und das Ausschließen, nicht leicht gemacht. Bürgerausschaltung als Beruf – das ist gelegentlich noch härter als das übliche Bohren von harten Brettern.
Wer versucht, inmitten der Polemiken Beobachterruhe zu wahren, gewinnt ein Bild, das die verschiedenen Konfliktherde zu einer kohärenten Szene zusammenzieht: Auf breiter Front sieht man dieselben Bunkerreflexe gegen die Störung der Routinen, dasselbe Ausweichen ins Mobbing gegen die Träger „unerwünschter Meinungen“, dasselbe Unbehagen an der Wortergreifung der Unberufenen, dieselbe Verwechslung von Verstopfung mit Charakterfestigkeit.
Über so viel eingehauste Dumpfheit kann nur eine genauere Analyse des politischen Systems und seiner Paradoxien hinausführen. Diese würde beginnen mit der Erklärung, warum die moderne repräsentative Demokratie in der Regel außerstande ist, zu bewirken, was den Caesaren noch scheinbar spielend gelang: Diese waren jahrhundertelang imstande, den systemischen Imperativ der postrepublikanischen Bürgerausschaltung mit dem psychopolitischen Imperativ der thymotischen Bürgerbefriedigung zu verbinden. Die Modernen scheitern an dieser Aufgabe, seit ihnen die Ausflucht in die nationale Selbstüberhöhung nicht mehr so leicht fällt wie vor hundert Jahren. Daher stehen ihnen nur zwei Auswege offen, von denen einer ökonomisch ruinös, der andere psychopolitisch unberechenbar ist: die Bürgerausschaltung durch Stillhalteprämien und die Bürgerlähmung durch Resignation. Wie Prämien funktionieren, weiß jeder, der die aktuellen Debatten über den Alimentenstaat beobachtet. Auch wie die Resignation erzielt wird, ist kein Geheimnis. Diese gleicht oberflächlich der Zufriedenheit unter einer guten Regierung. Sie unterscheidet sich von ihr durch die mutlos grollende Stimmung, nach deren Urteil die da oben im Grunde doch alle gleich sind. In solchem Klima können Wahlbeteiligungen, wie in den USA üblich, auf unter 50 % absinken, ohne daß die politische Klasse Grund sähe, sich zu beunruhigen.
Bürgerausschaltung mittels Resignation ist ein Spiel mit dem Feuer, da sie jederzeit in ihr Gegenteil, die offene Empörung und den manifesten Bürgerzorn umschlagen kann. Hat der Zorn erst einmal sein Thema gefunden, läßt er sich nicht mehr leicht davon ablenken. Für die politische Klasse kommt die Erschwerung hinzu, daß die moderne Bürgerausschaltung sich als „Einbeziehung“ des Bürgers präsentieren will. Dessen Entpolitisierung muß mit so viel restlicher Politisierung verbunden bleiben, wie zur Selbstreproduktion des politischen Apparats nötig ist.
In keiner Hinsicht sind die Bürger unserer Hemisphäre so ausgeschaltet wie in ihrer Eigenschaft als Steuerzahler. Es ist dem modernen Staat gelungen, seine Angehörigen im Moment ihrer materiellsten Zuwendung zum Gemeinwesen, im Augenblick ihres Einzahlens in die gemeinsame Kasse, die passivste Rolle aufzudrängen, die er zu vergeben hat: Statt die Geberqualität der Zahlenden zu hervorzuheben und den Gabe-Charakter von Steuern respektvoll zu betonen, belasten die modernen Fiskalstaaten ihre Steuerzahler mit der entwürdigenden Fiktion, sie hätten bei der öffentlichen Kasse massive Schulden, so hohe Schulden, daß sie dieselben nur in lebenslangen Raten tilgen können. Im Zentrum des modernen Bürgerausschaltungsgeschehens findet man ein psychopolitisch völlig falsch konstruiertes Steuerwesen. Es raubt den steueraktiven Bürgern den Stolz und drängt sie in die Position von ewigen Schuldnern des Leviathans. Je leistungsfähiger sie sich zeigen, desto tiefer stehen sie in der Kreide, je mehr sie zu geben haben, desto mehr sind sie im Minus. Im übrigen werden die Steuerbürger neuerdings nicht nur im Augenblick ihres Einzahlens in die Gemeinschaftskasse zur Passivität verdammt, sie erleiden eine Passivität zweiten Grades, seitdem der Staat sie hinterrücks an die Galeere der öffentlichen Schulden gefesselt hat. Ohne zu begreifen, wie ihnen geschah, sehen sich die Gebenden in eine Schicksalsgemeinschaft neuen Typs verstrickt. Sie bilden ab sofort eine Kollektivschuldgruppe, die morgen und bis zu ihrem letzten Atemzug für das bezahlen werden, was die Bürgerausschalter von heute ihnen aufbürden. Man sage nicht, die heutige Politik habe keine Visionen mehr. Noch gibt es eine Utopie für unser Gemeinwesen. Wenn das Glück auf unserer Seite ist und alle alles tun, was in ihrer Macht steht, gelingt am Ende sogar das Unmögliche, die Staatsbankrottvermeidung. Sie ist von nun an der rote Stern am Abendhimmel der Demokratie.
Unzählige Kommentare haben seit der 2008 aufgebrochenen Finanzkrise die Gefährlichkeit der Spekulation an den Finanzmärkten beschworen. Von der gefährlichsten der Spekulationen war nie die Rede: Die meisten heutigen Staaten spekulieren, durch keine Krise belehrt, auf die Passivität der Bürger. Westliche Regierungen wetten darauf, daß ihre Bürger weiter in die Unterhaltung ausweichen werden; die östlichen wetten auf die unverwüstliche Wirksamkeit offener Repression. Man muß kein Prophet sein, um zu ahnen, in welchem Maß die Zukunft vom Wettbewerb zwischen dem euro-amerikanischen und dem chinesischen Modus der Bürgerausschaltung bestimmt sein wird. Beide Verfahren gehen davon aus, man könne das Aufklärungsgebot der Repräsentation von positivem Bürgerwillen und gutem Bürgerwissen im Regierungshandeln umgehen, indem man weiter mit hoher Bürgerpassivität rechnet. Das ging bisher erstaunlich gut: Sogar nach der mißglückten Kopenhagener Weltklimakonferenz von 2009 widmeten sich die Bürger Europas in jenem fatalen Dezember lieber ihren Weihnachtseinkäufen als der Politik; sie zogen es vor, mit vollen Tüten nach Hause zu kommen, statt ihre mit leeren Händen zurückgekehrten „Vertreter“ zumindest symbolisch so zu teeren und zu federn, wie sie es verdient hätten.
Auch ohne divinatorische Begabung kann man wissen: Dergleichen Spekulationen werden früher oder später zerplatzen, weil keine Regierung der Welt im Zeitalter der digitalen Zivilität vor der Empörung ihrer Bürger in Sicherheit ist. Hat der Zorn seine Arbeit erfolgreich getan, entstehen neue Architekturen der politischen Teilhabe. Die Postdemokratie, die vor der Tür steht, wird warten müssen.