Gespräch

Das 21. Jahrhundert beginnt mit dem Debakel vom 19. Dezember 2009

Im Rahmen der Klimakonferenz in Kopenhagen war der Philosoph Peter Sloterdijk Gast des Louisiana Museums in Humlebæk. Dort hielt er im Rahmen eines Symposiums mit dem Titel „Where do we go from here?“, an dem Künstler, Wissenschaftler und Techniker aus aller Welt teilnahmen, die abschließende programmatische Rede zum Thema Klimawandel. Am Rande des Symposiums fand auch dieses Interview statt, das dann nach dem Ende der Klimakonferenz noch per E-Mail ergänzt wurde.

Interviewt hat: Andrian Kreye / Quelle: Süddeutsche Zeitung

SZ: Herr Sloterdijk, teilen Sie die allgemeine Enttäuschung über den Ausgang der Kopenhagener Klimakonferenz?

Sloterdijk: Ja und nein. Unmittelbar enttäuscht bin ich nur von Barack Obama, da ich nicht geglaubt hätte, er würde es wagen, mit so leeren Händen nach Dänemark zu reisen. Allein von ihm hätte man eine größere Geste erwarten dürfen. Aber da sich alle übrigen Akteure wortgetreu an die Drehbücher des Nationalegoismus hielten, soll niemand behaupten, er sei enttäuscht. Man muss jetzt mehr denn je konstruktiv diabolisch denken und sich sagen, dieses Scheitern war das Beste, was uns passieren konnte. Immerhin weiß man ab heute besser denn je, was von UN-Spektakeln dieser Art zu halten ist, man weiß zudem, dass für eine effektive Weltsteuerung andere Organe erfunden werden müssen, und man weiß, dass die Zeit abläuft, in der die Bürger mit ihren Regierungen Geduld hatten. Man hat uns glauben gemacht, das 21. Jahrhundert habe am 11. September 2001 begonnen, und sein Grundthema sei Sicherheit vor dem Terror. In Wahrheit beginnt das 21. Jahrhundert mit dem Debakel vom 19. Dezember 2009 – sein Grundthema ist das Fehlen von Global Governance. Die ganze politische Sphäre ist bloßgestellt, alles, was vorgibt, an der Macht zu sein, erscheint von jetzt an wie ein hohles Ancien Régime. Nach Kopenhagen leben wir in einer vorrevolutionären Situation neuen Typs. In aller Welt werden die Bürger nach Sicherheit vor ihren Regierungen verlangen.

SZ: Viele suchen wohl noch gar nicht nach Lösungen, sie suchen nach Metaphern. Ist diese Suche nicht nur etwas verzweifelt?

Sloterdijk: Eine Metapher ist für Erste nichts anderes als ein hybrides Redegebilde, das zwischen Begriff und Anschauung vermittelt. Darum ist die Suche nach Metaphern also solche nicht verzweifelt, sondern optimistisch. Die treffende Metapher produziert einen Überschuss zugunsten der Anschauung – und genau an der Überzeugung durch Anschauung fehlt es heute auf der ganzen Linie. In den Formeln der Meteorologen erscheint unsere Lage ja schon halbwegs klar, soweit man über Dinge, die in der Zukunft liegen, überhaupt plausible Annahmen machen kann. Diese Klarheit lässt die meisten aber kalt. Die Menschen sind Zukunftsatheisten, sie glauben nicht an das, was sie wissen, selbst wenn man ihnen stringent beweist, was kommen muss. Glauben und Wissen klaffen im Hinblick auf unser globales Geomanagement völlig auseinander. Da wäre eine plausible Metapher hilfreich, weil sie anregen würde, etwas mehr an das zu glauben, was wir wissen. Die Anschauung ist immer ein Stück gläubiger als der Verstand. Ich denke in der Tat, dass die Ungläubigkeit das letztlich entscheidende Element der globalen Krise ausmacht. Kopenhagen war ein Konzil der Ungläubigen, niemand sollte sich über das Ergebnis wundern.

SZ: Aber ist es nicht vor allem ein Problem der Erfahrung, die wir auf von der Natur bevorzugten Kontinenten wie Europa oder Amerika nicht machen können?

Sloterdijk: Wenn wir ehrlich sind, wollen wir eine Erfahrung, die uns gläubig machen würde, um nichts in der Welt erleben – so wie die meisten Christen sich ja auch die Wiederkehr des Herrn in seiner Herrlichkeit nicht ernsthaft wünschen. Sicher, es gibt die seltsamen Vögel, die sich wirklich auf das second coming freuen. Das sind Menschen, die ein hohes Maß an metaphysischem Leichtsinn mitbringen, denn sie stellen sich vor, bei der Wiederkehr des Herrn würden die Nachbarn bestraft, sie selber aber ausgezeichnet und gerettet. Solche Einstellungen sind typisch für fundamentalistische evangelikale Gruppen in den USA, die seit jeher große Hoffnungen in die Apokalypse setzen. Was im Übrigen zeigt, Apokalyptik ist eine Form von Optimismus, weil sie von der Annahme ausgeht, es würden am Ende die Richtigen eliminiert und die Guten blieben übrig – sie selbst. Aber im Hinblick auf die ökologische Apokalyptik besteht für diese Art von Optimismus kein Grund.

SZ: In Ihrem Vortrag hier in Kopenhagen geht es um ökologischen Puritanismus. Stellt ein solcher Puritanismus nicht eigentlich eine Apokalyptik ohne das Moment der Erlösung dar?

Sloterdijk: Die konsequenten Ökoapokalyptiker glauben nicht an die Rettung, sondern daran, dass die große Katastrophe Gerechte wie Ungerechte dahinrafft, so wie die Sonne über Gute und Böse scheint. Im Übrigen sind sie der Meinung, dass die Katastrophe recht hat, wenn sie alle trifft. Angesichts des ökologischen Desasters verliert der Begriff des unschuldigen Lebens seinen Sinn. In diesem Punkt nähert sich die Ökoapokalyptik den Denkmustern des authentischen Terrorismus, denn auch dieser ist überzeugt, dass es auf Erden kein unschuldiges Leben gibt. Das zeigt sich nirgendwo deutlicher als im Verhalten islamistischer Attentäter, die ihre Bomben gerne auf bevölkerten Wochenmärkten deponieren. Sie könnten das unmöglich tun, wenn sie nicht die Annahme machten, dass im Grunde alle schuldig sind. Die einzige Annäherung an die Unschuld besteht für sie darin, durch das Selbstopfer in die Schar der wenigen geretteten Märtyrer überzutreten.

SZ: Also eigentlich eine Individualisierung der Apokalypse?

Sloterdijk: Sagen wir: die Zuspitzung des Heiligen Krieges zu einer persönlichen Torschlusspanik. Das ist so, als wolle man sich eine Fahrkarte für das letzte Schiff sichern, das von hier nach drüben fährt. Ökoapokalyptiker gehen in der Regel nicht ganz so weit, und viele von ihnen haben noch ein Konzept für die globale Rettung. Man darf nicht vergessen, dass nicht wenige von denen, die Hoffnungen auf die Kopenhagener Verhandlungen setzten, die ökologische Krise als zweite Chance des Sozialismus revitalisieren möchten. Für sie sind wir vor der Klimakatastrophe alle gleich. Wir sollen uns künftig verhalten wie vernünftige Shareholder der Atmosphäre. Jeder bekommt eine Volksaktie an Luft zugeteilt und darf im Lauf eines Lebens genau soundsoviel Kilo CO2 produzieren.

SZ: Auf der anderen Seite gibt es die Lohas, die davon ausgehen, dass nicht wir uns ändern müssen, sondern die Produkte. Sie meinen, wir verändern mit unseren Kaufentscheidungen die Produkte und die Wirtschaft und damit auch den Lauf der Dinge. Kommt es da nicht zu einer Ideologisierung der Debatte?

Sloterdijk: Ich denke, das ist eine geringere Sorge. Die Lage ist so ernst, dass wir im Hinblick auf Retter nicht wählerisch sein können. So wie es der Erleuchtung egal ist, wie man sie erlangt, so ist es der Erhaltung der Erdatmosphäre egal, wer für sie das Entscheidende tut. Im Rückblick würde man sogar Leuten wie Sarkozy oder Al Gore verzeihen, uns gerettet zu haben, wenn sie es denn täten. Mir scheint, das 21. Jahrhundert kann gar nicht anders verlaufen als in der Form einer massiven Mobilmachung von Rettungskräften. Die Evidenz, dass etwas geschehen muss, ist übermächtig, und sie wird enorme innere und äußere Mobilisierungen hervorrufen. Das ist es, was ich mit dem Bild vom „Jahrmarkt der Erlöser“ umschreibe – das mag ironisch klingen, aber es ist als neutraler Hinweis auf eine sehr ernste Sache gemeint.

SZ: Wer hat denn Ihrer Meinung nach die größten Chancen, uns auf den richtigen Weg zu bringen?

Sloterdijk: Mir scheint, im Augenblick liegen die besten Aussichten bei denen, die eine Revision unseres Modus vivendi in einem alternativen technischen Rahmen vorschlagen. Es könnte nicht zuletzt aufgrund des Kopenhagen-Desasters in absehbarer Zeit zu einer Einigung der großen Industrie- und Schwellenländer über die Segregationstechnik kommen. Würde die in großem Maßstab eingesetzt, müsste man über den CO2-Ausstoß nicht mehr in derselben aufgeregten Weise wie heute reden, weil dieses Gas dann gar nicht mehr in die Atmosphäre gelangt, sondern schon vor der Verbrennung abgeschieden wird. Technisch ist das möglich, wenn auch ziemlich teuer, doch alles, was teuer war, wird billiger, sobald es im großen Maßstab praktiziert wird. Diese Lösung ist deswegen nicht unwahrscheinlich, weil es noch zu viel Erdöl und viel zu viel Kohle gibt, als dass die Fossilenergiepolitiker jetzt schon aufgeben könnten. Man muss also damit rechnen, dass die Fossilenergie-Abhängigkeit unserer Zivilisation mittelfristig hartnäckig aufrechterhalten wird – daran ändert das für morgen oder übermorgen angekündigte Elektroauto ebenso wenig wie die Solarheizung auf dem Dach. Die Segregationstechnik könnte für eine Atempause sorgen, bis die sauberen Energien definitiv den Markt bestimmen.

SZ: Wie könnte das aussehen?

Sloterdijk: Die Raffinerien erhalten durch die nationalen Regierungen die Auflage, nur noch CO2-gereinigte Brennstoffe auszuliefern. Damit würde der Tatbestand der CO2-Sünde im Voraus aus der Welt geschafft. Stattdessen käme das Problem auf, wohin man die riesigen Mengen von segregiertem CO2 entsorgen soll. Techniker behaupten, man könne das Gas unter die Erdoberfläche pressen oder es im Meer bis in Tiefen unter tausend Meter absenken, von wo an es, wie man hört, die willkommene Eigenschaft aufweist, in immer größere Tiefen zu sinken und zu verschwinden.

SZ: Aber schaffen wir da nicht eine neue Endlagerproblematik?

Sloterdijk: Natürlich würden wir das tun, und niemand weiß, wie die Ozeane reagieren. Deswegen könnte die CO2-Segregation bestenfalls eine Zwischenlösung für eine gestreckte Übergangszeit in die wirkliche Postfossilität bieten. Sie hätte den Vorzug, dass dabei nicht alle Nationen zum Mitmachen gezwungen werden müssten. Kopenhagen zeigt ja, wie unrealistisch es ist, anzunehmen, die UN könnte als Forum für die Lösung des Klimaproblems dienen. Ein so stark zerklüftetes 200-Agenten-System wie die Vereinten Nationen kann als einzigen Output systematische gegenseitige Behinderung erzeugen – ein perfektes Ergebnis für alle, die den Status quo erhalten wollen, ein fatales für jene, die verstanden haben, dass gehandelt werden muss. Kurzum, mit dem Weltplenum ist vernünftige Klimapolitik bis auf weiteres ein Unding, es widerspricht auch allem, was wir über Nationalegoismen wissen. Aber ein Beschluss über die CO2-Abscheidung müsste ja von vorneherein nur die Großen engagieren – es würde genügen, wenn die zehn oder fünfzehn größten Klimabelaster sich über eine gemeinsame Linie einigen. Wenn sie für eine gewisse Periode die Technik der CO2-Segregation wählten, erhielte man eine Atempause, die Ölverknappung sorgt weiter für steigenden Umstellungsdruck, und die Nachreifung der alternativen Technologien besorgt das Übrige.

SZ: Zu diesen Großen werden aber demnächst einige Länder gehören, die jetzt noch nicht groß und vor allem nicht so wohlhabend sind. Der Mathematiker und Spieltheoretiker Bruce Buneo de Mesquita hat gerade eine Prognose erstellt, die besagt, dass jedwede Einigung, egal ob in Kopenhagen oder in den nächsten Jahren, spätestens um 2050 daran scheitern wird, dass diese Länder ihren neuen Wohlstand nicht aufgeben wollen.

Sloterdijk: Sie wollen ihn doch schon heute nicht preisgeben. Das deutsche Fernsehen hat in diesen Tagen extensiv Korrespondentenberichte aus China gezeigt, in denen Gespräche mit Mittelschichtchinesen zu hören waren. Diese Leute denken nicht im Traum daran, ihren neu erlangten Wohlstand aufs Spiel zu setzen. Aber andererseits ist die chinesische Regierung rationalen Argumenten zugänglich. Das sind keine Energiefaschisten, und es sind keine kulturrevolutionären Desperados. China ist eine alte Balancekultur und besitzt eine gut eingewurzelte Tradition des Pragmatismus. Die Führer des Landes sind schon heute erstaunlich zugänglich für die Argumente, die ihnen in ihrer Eigenschaft als neuer Nummer eins unter den Atmosphärebelastern entgegengehalten werden. Andererseits verfügen sie über ein unwiderlegbares historisches Argument: Die Europäer und Amerikaner haben in puncto Umweltbelastung 200 Jahre Vorsprung, und die Chinesen beanspruchen das Recht, den Wohlstandsvorsprung des Westens aufzuholen. Dennoch glaube ich, sie würden dem Klub der Segregierer beitreten, sobald der Druck groß genug wird. Noch einmal: Die Erwartung, dass bis 2050 die Welt-Ökonomie dekarbonisiert sein wird, ist schlicht und einfach illusorisch, und die Vorstellung, der Emissionshandel werde den entscheidenden Hebel zur CO2-Reduktion bilden, beruht auf einer autohypnotischen Täuschung. In dieser Hinsicht war schon der Grundgedanke von Kopenhagen falsch.

SZ: Hätte es eine Alternative gegeben?

Sloterdijk: Vielleicht ja. In diesem Zusammenhang sollten wir uns an die Vorgänge in Hessen erinnern. Nach der eklatanten Niederlage von Koch und dem großen Wahlerfolg von Frau Ypsilanti hätte dort ein möglicherweise epochales Experiment stattfinden können. Ich trauere noch immer ein wenig über diese verpasste enorme Gelegenheit. Dabei fehlte gar nicht viel: Es hätte für Frau Ypsilanti genügt, so lange stoisch ruhig zu halten, bis sie von allen Seiten angefleht worden wäre, sich doch in Gottes Namen auch mit den Stimmen der Linken zur Ministerpräsidentin wählen zu lassen. Kein Mensch hätte dann dieses hysterische Gerede vom Wortbruch aufgebracht, alle Beteiligten hätten eingesehen, dass es zum politischen Geschäft gehört, in veränderten Lagen veränderte Ansichten zu äußern und ungeliebte Allianzen zu schließen. In Hessen hätte unter Ypsilanti ein energiepolitischer Versuch von weltpolitischer Relevanz abrollen können.

SZ: Inwiefern?

Sloterdijk: Hermann Scheer hatte ihr ein Papier geschrieben, das darlegte, wie man ohne politischen Putsch, allein durch die Ausschöpfung der legalen Gestaltungsspielräume, eine Umstellung der Energieversorgung zu 100 Prozent auf regenerative Quellen erreichen kann – und zwar in verblüffend kurzer Zeit. Das war das eigentliche Geheimnis der Affäre Ypsilanti. Wieso wurde denn diese Frau durch eine beispiellose Antipathie-Kampagne aus der deutschen Politik eliminiert? Ich denke, man muss den energiepolitischen Hintergrund des möglichen Machtwechsels in Hessen beleuchten, um zu verstehen, warum dieser Rufmord geschehen musste. Das Scheer-Papier brachte ganze Industrien zum Zittern – und man denunzierte den Autor sehr folgerichtig als „Geisterfahrer“. Man muss sich nur einmal vorstellen, was das bedeutet hätte, wenn ein Teilstaat einer großen Industrienation in ein Versuchslabor für die Ökowende umgewandelt worden wäre. Und was für eine Katastrophe für den Konsens der großen Bremser, wenn sich Scheers Annahmen auch nur zur Hälfte bewahrheitet hätten!

SZ: Sucht die Staatengemeinschaft nicht gerade nach solchen Projekten mit potentiellem Vorbildcharakter?

Sloterdijk: Durchaus, aber alle Regierungen lassen sich von den großen Energieversorgern beraten, deren erste Sorge darin besteht, sehr lange Umstellungsfristen zu verlangen. Es wäre für sie ein Desaster, sollte sich erweisen, dass das alles ganz schnell gehen könnte, wenn nur der politische Wille dazu da wäre. In dieser Lage braucht man Experten, die beweisen, was bewiesen werden soll: Dass man bis zum Jahr 2030 vielleicht 20 Prozent aus alternativen Energien beziehen kann, und vielleicht 50 Prozent bis zum Jahr 2050. Man sieht allzu klar, wie der gekaufte Hase läuft: Er soll am besten nur sehr kleine Schritte machen. Aber wie wäre es, wenn die Technologien schon heute für mehr als einen kleinen Schritt ausreichten – wenn sie einen Sprung ermöglichten?

SZ: Eine korrupte Expertokratie kann sich meistens nicht lange halten. Gekaufte Studien gibt es für alle möglichen Themen. Doch denken Sie an den Umschwung beim Tabakkonsum. Fast über Nacht wurde das Rauchen in Amerika und Europa von einer eleganten Geste zu einem vulgären Akt. Gleichwohl hatte es genügend Expertisen gegeben, die versucht haben, diesen Bewusstseinswandel zu verhindern.

Sloterdijk: Das ist ganz richtig, und es zeigt, was der politische Wille zuwege bringt, wenn er den Mehrheitswillen für sich gewinnt. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass in den nächsten zehn Jahren die nötigen Willensakkumulationen stattfinden, um Dinge wie die CO2-Segregation durchzusetzen. Selbst wenn Europa auf diesem Weg allein voranginge, könnte es sich mit der Zeit bei allen wichtigen Partnern durchsetzen. Was an einer Stelle mit Erfolg praktiziert wird, zieht früher oder später den Rest nach, seit wir in einer Welt leben, die wehrlos ist gegen das bessere Beispiel. Das ist der entscheidende Vorzug des Lebens in der hohen Vernetzung. Durch die starke kommunikative Erschließung der Welt schlagen Best-Practice-Beispiele schnell durch. Ich erinnere an die Einführung eines effektiven Analgetikums in der Chirurgie: Nachdem im General Hospital von Massachussetts in Boston im Oktober 1846 erstmals eine Operation unter Vollnarkose erfolgreich praktiziert worden war, hat es keine sechs Wochen gedauert, bis auch im fernen Europa die ganze chirurgische Praxis auf diese Neuerung umgestellt wurde – einige christlich motivierte Reaktionäre ausgenommen, die meinten, der Schmerz gehöre zur Conditio humana und man dürfe auch bei Operationen nicht schwindeln. Doch diese Schmerz-Fundamentalisten blieben eine winzige Minderheit, die übrigen Ärzte nahmen die neue, beste Praxis begeistert in ihr Behandlungsrepertoire auf. Das Gleiche würde passieren, sobald heute an irgendeiner Stelle des Planeten der Beweis für die Praktikabilität einer energiepolitischen besten Praxis geführt würde.

SZ: Aber sind wir da nicht wieder bei dem Problem vom Anfang? Es geht um die zwingende Metapher, um Anschaulichkeit und persönliche Erfahrung. Bei einer Operation ohne Betäubung weiß jeder, woran er ist. Die Aussicht auf eine größere Naturkatastrophe bleibt aber für die meisten Landstriche in den Wohlstandsländern eine abstrakte Vorstellung.

Sloterdijk: So ist es, und eben deswegen spekulieren manche nicht ganz so freundliche Menschenfreunde seit geraumer Weile mit einer erzieherischen Katastrophe. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an die Zeit erinnern, als Rudolf Bahro und Carl Friedrich von Weizsäcker die Ökothematik in Deutschland intellektuell implantierten? Damals wurde der Begriff „Warnkatastrophe“ geprägt, der von einigen Teilnehmern an der jetzigen Ökodebatte wieder aufgenommen wird. Eine Warnkatastrophe wäre genau das Ereignis, durch welches Wissen in Glauben umgewandelt würde. Die Ökokatastrophe wäre die Art von Offenbarung, die zu unserem Wissen das Glauben hinzufügt.

SZ: Sie sprechen in Ihrer Kopenhagener Rede davon, das Umdenken über das Verhältnis von Mensch und Umwelt im 21. Jahrhundert müsse noch tiefer gehen als die Reformationen des 16. Jahrhunderts, als immerhin die Beziehungen zwischen Mensch und Gott neu geordnet wurden. Sehen Sie schon erste Ansätze, dass sich so ein Umdenken vollzieht? Beispielsweise im Design Think, in der sich die Gestaltung von der Ästhetik zur integralen Problemlösung hin bewegt?

Sloterdijk: Mir scheint es plausibel, anzunehmen, dass wir eine Art Renaissance erleben werden, sprich ein Zeitalter der multipolaren Ingenieursintelligenz vom Typus Buckminster Fuller. Diese Art von Intelligenz denkt künftig die gesamte Produktlinie mit. Wir haben im 20. Jahrhundert ein vorwiegend resultatorientiertes Design gekannt, doch werden wir demnächst ein verfahrensorientiertes Design bekommen, das Gesamtrechnungen aufstellt und sich nicht mehr mit Endproduktästhetik begnügt. Ich habe im Übrigen den Eindruck, dass heute schon enorme Intelligenzreserven bereitstehen. Man darf nicht so tun, als müssten die Lösungen erst allesamt neu gefunden werden. Wer in der Designszene zu Hause ist und mit zeitgenössischer Architektur zu tun hat, wird wissen, dass alle Arten von Lösungen für alle Arten von Problemen in allen möglichen Schubladen bereitliegen. Die warten darauf, abgerufen zu werden. Wir haben heute so etwas wie eine Lösungenhalde, vergleichbar mit dem berühmten Butterberg, der sich seinerzeit dank europäischer Agrarpolitik auftürmte. In der Sache haben wir es vor allem mit einem riesigen Trägheitsproblem zu tun. Die Menschheit sitzt auf einem Berg an Lösungen, doch es fehlt noch an hinreichend motivierten Anwendern, die den Berg abtragen, indem sie die Intelligenzreserven in die tägliche Praxis überführen. Es ist nicht die Moral, die uns behindert, und es ist nicht die Unlösbarkeit der Aufgaben, die uns das Leben schwermacht, es ist eher so etwas wie ein anthropologischer Block, der die Prozesse so am Boden hält. Ich spreche in meiner Kopenhagener Rede vom verschwenderischen, angreiferischen und expansionistischen Lebensstil als solchem, den ich den kinetischen Expressionismus der Moderne nenne und dessen goldenes Zeitalter offensichtlich zu Ende geht. Er ist wohl vor allem deswegen so schwer reformierbar, weil er ein paradoxes Mittelding zwischen Mobilmachung und Trägheit darstellt. Europa, Amerika, China, Indien, Brasilien – überall ist der kinetische Expressionismus an der Macht, den unsere alten und neuen Amateurmarxisten noch immer als „Kapitalismus“ missverstehen. Diese trägen Ausdrucksströme müssen in andere Bahnen gelenkt werden – das dürfte die schwierigste Aufgabe für die Zukunft sein. Das bloße Weitermachen ist kriminell, die bloße Verzichtsethik ist naiv. Dazwischen liegen die intelligenten Wege.