Gespräch

Schicksalfragen: Ein Roman vom Denken – I Karlsruher Gespräch

Ulrich Raulff im Dialog mit Peter Sloterdijk

I  Karlsruher Gespräch

Raulff:

Herr Sloterdijk, vor einiger Zeit las ich in der FAZ einen Bericht von Ihrem Podiumsgespräch mit Heiner Geißler, das Sie aus Anlaß seines 80. Geburtstags Anfang März 2010 in Berlin geführt haben. Demnach brachten Sie den Begriff „Schicksal“ zweimal in Spiel – das ließ mich aufhorchen. Zum einen sollen Sie gesagt haben, das Luhmannsche Konzept von der „Ausdifferenzierung“ der Subsysteme sei der kühlste aller möglichen Hinweise auf die Macht des Schicksals: Komplexe soziale Systeme folgten der unausweichlichen Gesetzmäßigkeit selbstbezüglichen Funktionierens. Zum anderen führten Sie das Argument ins Feld, das Engagement des Westens in Afghanistan liefere den Beweis dafür, dass auch die moderne Welt dem Tragischen nicht entgeht. In diesem Kontext fiel ebenfalls das Wort Schicksal. Was ist damit gesagt? Inwiefern reden Sie von etwas anderem als von militärischem Versagen oder von einem Mangel an politischer Strategie?

Sloterdijk:

Afghanistan diente in meinem Argument als aktuelles Exempel für die Gesamtheit der Situationen, in denen Menschen, was immer sie tun, zum Fehlermachen verurteilt sind. Auch den Modernen zwingt sich die  Erfahrung auf, dass wir in manchen Momenten nur zwischen Fehlern, Unglücken, Fatalitäten wählen, weil es in ihnen das einfachhin richtige Verhalten nicht gibt. Im Blick auf die Lage in Afghanistan hatte ich das bei dem Gespräch mit Heiner Geisler so erläutert, dass den westlichen Politikern zur Stunde nur die Wahl zwischen zwei Übeln offen steht: Bleiben die westlichen Truppen im Land, befremden die Verantwortlichen ihre eigenen Bevölkerungen, weil diese nach all den Jahren noch immer nicht so recht begreifen, was ihre Männer dort zu suchen haben: Es werden ständig tote Soldaten repatriiert, einen militärischen Erfolg kann man aber nicht erkennen – wachsende Unpopularität dieser Politik ist die Folge. Geht man hingegen aus Afghanistan heraus, überlässt man das Land Kräften, denen man Schlimmstes für ihr eigenes Volk und die Mitwelt zutrauen muß. Kurzum, man hat  nur die Wahl zwischen zwei Übeln.

In einem solchen Kontext darf man, wie mir scheint, den Begriff des Tragischen wiederverwenden, jenseits der alltagssprachlichen Bedeutung. Interessanterweise bezeichnet die gewöhnliche Rede heute mehr oder weniger alles, was man früher fatal genannt hätte, als tragisch, vor allem den tödlichen Unfall. Der Unfall ist für uns der Statthalter des Tragischen bzw. des Fatalen – beide Begriffe drücken aus, wie die Menschen heute nicht anders als seit jeher in manchen Momenten von dem Gefühl überwältigt werden, daß das Furchtbare an der Macht ist. Unfälle und Katastrophen sind opportunistische Größen, die sich von Zeit zu Zeit ihre Souveränität bestätigen lassen, indem sie wie blind zuschlagen. Dann sind die Menschen ihrer Fassungslosigkeit ausgeliefert, obschon sie sich als moderne Subjekte gern einbildeten, sie hätten sich technisch und politisch gegen das Unglück abgedichtet. All die Kompetenzapparate, die wir gegen die Schläge des Schicksals aufgebaut haben, scheinen mit einem Mal wirkungslos, und die Menschen sinken von einem Augenblick zum anderen in einen Zustand quasi archaischer Hilflosigkeit zurück.

Mit dem Wort „Hilflosigkeit“ rühren wir an den antiken Ausgangspunkt der Aufklärung: Denn Aufklärung, wie sie in der antiken Sophistik erstmals Gestalt annahm, ist primär eine Prophylaxe der Hilflosigkeit. In der griechischen Sophistik gab es einen Begriff, der bedauerlicherweise im Grundwortschatz der zeitgenössischen Philosophie kaum noch Berücksichtigung findet, obschon er den wichtigsten Gedanken der antiken Ethik ausdrückt: den Begriff der amechanía, der gewöhnlich mit Ohnmacht übersetzt wird. Wörtlich genommen bezeichnet er das Fehlen der mechané, also der List, des Kunstgriffs oder der Maschine, mittels welcher man sich bei existentiellen Schwierigkeiten aus der Affaire ziehen könnte…

Raulff:

…die Eingriffsvereitelung sozusagen…

Sloterdijk:

Genau, weil amechanía die Situation benennt, in welcher der Mensch um das gebracht ist, was ihn erst ganz zum Menschen macht, nämlich die Fähigkeit zur Riposte gegen Angriffe, die Ausstattung mit Handlungsoptionen oder, um zeitgenössisch zu reden, der Vollbesitz seiner agency. Sobald der Mensch in der amechanía versinkt, gerät er in den Zustand, der schlechterdings nicht menschengemäß ist. In diesem Punkt dachte die alte Sophistik tiefer als die Akademie. Für sie ist es der Sinn sämtlicher Ertüchtigungen, der geistigen wie der körperlichen, sich vom Pol der amechanía abzustoßen, damit der Mensch ein Könner werde, ein Könner des Daseins im allgemeinen und ein Wesen, das sich richtig ausdrückt, im besonderen. Wenn immer von paideia die Rede war, und später von Bildung, hatte man den Ausgangpunkt dieser Konzepte in einem ganz elementaren Begriff von existentiellem Können mitzudenken. Das Erbe der Sophistik floß in die stoische Ethik ein, die den Menschen als das nie-ohnmächtige Wesen herausarbeiten wollte. Dieser Ethik liegt das Postulat zugrunde, Menschen sollten immer etwas tun können, sogar in den Situationen, in denen man nichts mehr tun kann, und wenn es bloß das Bewahren von Haltung wäre.

Rauff:

Das beschreibt also eine Ebene, die tiefer liegt als die Unmündigkeit. Deren Aufhebung hatte unsere bekannte Aufklärung im Sinn. Ohnmacht bezeichnet eine Schicht darunter, die völlige  Handlungsunfähigkeit…

Sloterdijk:

Tatsächlich geht Ohnmacht über gewöhnliche Unmündigkeit um eine Dimension hinaus. In unserer Auffassung von Unmündigkeit klingt ja die Vorstellung mit, dass der Unmündige einen Vormund braucht, der seinerseits über Mittel verfügt, der Ohnmacht zu entgehen. Das Ideal der Beziehung zwischen Mündel und Vormund wäre naturgemäß, das erstere in den Zustand der Selbständigkeit zu befördern. Ein solches Bündnis ist schon in der antiken Verwerfung der amechanía vorgezeichnet. Es liegt auch der anfänglichen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler zugrunde. Schon bei den Griechen wird der Mensch entworfen als ein Wesen, das sich zu helfen wissen soll. Die alten Sophisten sind um die Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Menschen nicht verlegen: Für sie ist der Mensch jenes Geschöpf, das unter allen Umständen von einem unverwüstlichen Ich-kann gesteuert wird. Ein solches Lebewesen, das mit Aristoteles die Sprache hat und mit der Sophistik die Kunst der Riposte und der Improvisation, setzt den äußeren Mächten sein Können entgegen – so wie der Steuermann mit seiner Erfahrung dem Sturm trotzt.  Es ist kein Zufall, dass auch Platon, der in nächster Nähe zur Sophistik denkt, obschon in polemischer Spannung gegen sie, gerne Beispiele wählt, in denen Menschen als Experten präsentiert werden. Etwa als Architekt, der weiß, wie man ein Haus errichtet, damit man sein Leben nicht im schrecklichen Zustand der Unbehaustheit verbringen muss, oder als Steuermann, kybernetes, der dafür sorgt, daß wir auch bei schwerer See ans Ziel kommen.

Kurzum, die Anti-Amechanía-Gesinnung läuft durch die gesamte  griechische Aufklärung und mündet in der stoischen Haltungslehre. Wenn man die entsprechenden Briefe Senecas nachliest, wird man feststellen,  dass er einen ausgeprägten Sinn fürs Philosophieren angesichts des Ernstfalls besaß.  Ernstfälle sind  Situationen, in denen der Rückfall in die Ohnmacht fast unvermeidlich scheint. Das Ernstfallbewusstsein des Stoikers zur Zeit des Kaisers Nero orientiert sich an der extremsten Situation, in die die Menschen seiner Zeit geraten konnten, an der Lage des Gladiators in der Arena, der den finalen Schlag seines siegreichen Gegners erwartet. Bei Seneca hat die Arena die Seefahrt als Ernstfall-Muster abgelöst. In der Arena steht der verlierende Kämpfer der todgebenden Instanz direkt gegenüber. Nur durch eines kann er seine Widerständigkeit beweisen, nämlich indem er zeigt: Ich habe gelernt, mit Haltung zu fallen. Für einen Darsteller auf der Bühne des Seins gehört es sich, bis zum letzten Augenblick eine gute Figur zu machen.

Dieses savoir mourir ist kein sokratisches mehr. Seneca leitet aus der Gladiatorenrolle ein neues Bild der menschlichen Existenz ab: Sine missione nascimur, sagt er in einem seiner Briefe, als ob er einen Arena-Fatalismus aus der Taufe heben wollte. In der Arena des Lebens muß immer bis zum Tod gekämpft werden. Dazu sollte man wissen, die missio bedeutet das Entlassungszeichen, den gehobenen Daumen, mit dem das Arenapublikum einem tapferen Verlierer das Leben schenken konnte. Bei Kämpfen sine missione war diese Möglichkeit durch das Reglement ausgeschlossen, und die Gladiatoren mußten den Todesstoß ausführen. Wenn Seneca sagt, wir sind sine missione geboren, heißt das, wir müssen als Sterbliche immer bis ans Ende gehen. Folglich bleibt für uns aus seiner Sicht nur eines, um unseren Wert, unsere Festigung in der Weisheit zu beweisen, nämlich indem wir stehen bleiben, wo alle anderen schon liegen. Das Aufrechtstehen wird zum letzten Beweis für die Nicht-Ohnmacht, die wir, die tapferen Gladiatoren des Kosmos, anstreben sollen. Man könnte so weit gehen, den Begriff der Substanz mit der aufrechten Position des stoischen Finalisten in Verbindung zu bringen. Hätte Heidegger die lateinische Philosophie nicht verachtet, wäre aus ihr für seine Gestell-Theorie einiges zu holen gewesen.

Raulff:

Aber was bedeutet in dieser Situation dann das Schicksal? Ist es die Lebenssituation überhaupt, wonach wir ständig in einem Kampf sine missione stehen, oder gilt der Ausdruck nur für die finale Konstellation?

Sloterdijk:

Das Schicksal ist beides, die Serie der Prüfungen und das Endspiel. Die Macht des Schicksals zeigt sich bereits in der Anlage der Arena. Wer in ihr steht, hat aufgrund der Architektur seine Lage klar vor Augen: völlige Immanenz, ausweglose Geschlossenheit der Szene und auf den Rängen die laszive Menge, die Blut sehen will. Die Situation ist die Botschaft. Das Gebäude spricht von Fatalität mit Zuschauern. Bin ich Gladiator, erfahre ich  dort unten in der Sandbahn die restlose Exponiertheit meiner Existenz. Die anderen auf den Rängen genießen hingegen das Zuschauerprivileg. Sie können sich in der Masse verbergen und behalten den Rücken frei. Der Kämpfer ist jederzeit rundum sichtbar, er ist hineingehalten ins letzte Risiko, für ihn gibt es keinen Rückzugsort, er kann sich nirgends anlehnen, nirgends erholen. Allenfalls erreicht er einen Aufschub, falls er für diesmal siegreich davongeht, doch wenn er nicht bei den heutigen Spielen fällt, dann bei den nächsten oder übernächsten. Sollte er die Arena aufrecht verlassen, ist er für den folgenden Kampf aufgespart – das ist es, was es heißt, im Aufschub zu leben. Im zweiten Band meiner „Sphären“ habe ich einen Exkurs eingefügt unter dem Titel: „Später sterben im Amphitheater: Über den Aufschub, römisch.“ – worin ich den Derridaschen Begriff der différance, der zugleich Unterschied und Aufschub bedeutet, auf die Arena-Idee des stoischen Fatalismus bezog. Für die Römer waren die Spiele ein didaktisches Medium, in dem man die Grundwahrheit des Daseins im Imperium vorgeführt bekam. Das Leben kann nichts anderes bedeuten als den Versuch, später zu sterben – später als dein heutiger Kontrahent, so spät wie möglich. In der Arena kommt der imperiale Fatalismus zu sich, er betrifft den Pöbel wie den Caesar, den Gladiator wie den Zögling der Philosophie. Das Universum selbst ist die Arena, die missio wird niemandem gewährt. Angesichts dieser Verhältnisse versucht der Stoiker zeitlebens, sich den Merksatz einzuprägen, er habe die missio ohnehin nicht nötig, weil im Grunde alle Schicksale gut sind. Wir sind ja als Menschen nichts anderes lokale Funktionen des Kosmos, jeder Tod erfolgt rechtzeitig und am rechten Ort. Die antike Philosophie ist nicht mehr und nicht weniger als der Versuch, die unermeßliche Unwahrscheinlichkeit dieser kosmisch-harmonistischen Doktrin zu überspielen und so zu tun, als wäre sie das Allergewisseste. Der helle Fatalismus, der Glaube an das Gutbegründete aller Schicksale, diente bei den Alten dazu, das verheerende Dunkle im Leben der Wenigen und der Vielen  in Schach zu halten.

Raulff:

Sie haben zu Beginn gesagt, dass der Unfall für uns das Tragische ersetzt. Indem er unter der ästhetischen Optik des Tragischen aufgefasst wird, erlangt der Unfall eine gewisse Würde, er vertritt das Erhabene auf den Schauplätzen der Alltäglichkeit. Die Situationen, die Sie jetzt unter Verweis auf die antike Philosophie beschrieben haben, weisen immer eine ästhetische Komponente auf. Es gibt jedesmal – das fällt mir beim Schicksalsbegriff generell auf –, jemanden, der zusieht, sei es im griechischen Theater, sei es in der römischen Arena. Immer erscheint da ein Beobachter, der mit anschaut, wie der andere mit seinem Pensum fertig wird, wie er es meistert, ob er es stehend auf sich nimmt oder ob er rasch fällt. Wie gehört dieser Betrachter in das Funktionsfeld des Schicksalsbegriffs? Braucht wirklich das Schicksal einen Betrachter, der vom sicheren Ufer aus zusieht, so, wie es die Daseinsmetapher vom „Schiffbruch mit Zuschauer“  vorzeichnet?

Sloterdijk:

Der lukrezische Zuschauer am Ufer nimmt an der allgemeinen Theoretisierung des Lebens teil, die sich in der klassischen Antike vollzieht. Phänomenologie beginnt als Beobachtung von Verhängnissen. Seit Theorie in der Welt ist, gibt es tatsächlich immer jemanden, der aus relativ gesicherter Position zusieht, wie andere von ihren Schicksalen ereilt werden. Dies gilt an erster Stelle für die leidlosen Zuschauergötter der Alten, die sich dauernd am Weltschauspiel erfreuen, es gilt ebenso für die griechischen Theaterbesucher – um von den römischen Circusbesuchern zu schweigen. Tatsächlich setzt die Theorie mit der Tragödie ein, die ein gutes Stück älter ist als die Philosophie. In ihr lernten die Griechen das Alles-Mitanschauen. Die Dramatiker verwenden den expliziten Begriff des Schicksals in ihren Stücken selten, doch sie brauchen den Allgemeinbegriff nicht, weil die tragische Form per se eine Maschine zur Betrachtung von Schicksalen anbietet. Die Bocksgesänge stellen die Dilemmata der Helden zur Schau, indem sie den Zuschauern vorführen, in welchen Fallen und Komplikationen das menschliche Leben zugrunde zu gehen pflegt. Sie benutzen die Schicksalsbetrachtung als kathartischen Mechanismus, ja, sie wollen den Zuschauer der aristotelischen Theorie gemäß durch phobos und eleos läutern, sprich durch Schauder und Jammer oder, wie man früher etwas weniger pathetisch übersetzte, durch Furcht und Mitleid. Das setzt voraus, dass die Beobachter zunächst keine reflektierenden, sondern vor allem empathische Zuschauer sind, die sich an die Stelle des Unglücklichen versetzen, ohne ganz mit ihm zu verschmelzen. Der Ursprung der Tragödie ist ein Mitleidsritual. Im Theater wird die Kollektivseele affektiv synchronisiert, hierdurch werden die Einzelnen polisfähig gemacht. Kulturtheoretiker würden sagen, das dionysische Theater war mit seinen alljährlichen Darbietungen ein Apparat zur Stärkung der memoaktiven Fitness Athens. Man kann zu dieser Zeit ein guter Athener nur sein, wenn man gemeinsam mit den anderen an derselben Stelle des Dramas in Klagelaute ausbricht – ein fernes Echo dieser humanisierenden Parallelisierung der Affekte hört man noch in Goethes „das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil“. Ebenso gibt sich ein zuverlässiges Mitglied in der Polis dadurch zu erkennen, daß er in der Komödie an der richtigen Stelle gemeinsam mit den anderen lacht.

Raulff:

Wir haben jetzt bei unseren Erkundigungen nach dem Schicksalsbegriff verschiedene Situationen durchlaufen. Das Beispiel Afghanistan steht für die Verlegenheit des Handelns in einer Situation, in der man zwischen Übeln wählen muß, gleich großen oder verschieden großen, Übeln von ungleicher Geschwindigkeit, verschiedenen Ausmaßes, verschiedener Temporalität. Daneben erwähnten Sie die amechanía, die Situation der Ohnmacht, bei welcher überhaupt kein Handeln mehr möglich ist. Schließlich haben Sie auf das Unglück oder den Unfall hingewiesen, der plötzlich einschlägt und die normale Konfiguration des Lebens zerstört. Es scheint, es gibt ein regelrechtes Repertoire von Situationen, die unser Wissen vom Schicksalhaften oder Tragischen ausmachen.

Sloterdijk:

Solche Grundsituationen und das latente oder manifeste Bewußtsein von ihnen gehören in das dramaturgische Marschgepäck der Menschheit. Diese Ausrüstung für den Umgang mit dem Fatum haben zuerst die antiken Dichter und Denker zusammengestellt, sei es in Form von theatralischen Vorführungen, sei es in Form von Mythen und Spruchsammlungen, schließlich auch in den ersten Ausprägungen von Philosophie. Mit diesem Proviant hatten die Menschen der beginnenden Hochkulturen ihre Lebensreise zu bestreiten. Die diversen Gattungen laufen stets in einem Punkt zusammen: Sämtliche Auprägungen antiker Schicksalsberatung konvergieren in der Mahnung, der Mensch dürfe niemals der Hybris erliegen. Wer sich von der Überheblichkeit verlocken läßt, wer sich in seiner dicken Haut, in seiner Eigenmächtigkeit, in seiner phallischen Frechheit allzu sicher fühlt, der beschwört Unheil auf sein Haupt herab. Dies bringt erneut die Zuschauerproblematik ins Spiel, denn wenn die Götter sich im allgemeinen als unbetroffene, ewig lächelnde Zuschauer des Welttheaters verhalten, so gibt es doch eine Szene, die sie nicht mit ansehen, ohne ins Spiel einzugreifen, und das ist das Schauspiel der menschlichen Hybris. Wo die sich rührt, halten die Götter nicht ruhig, sie intervenieren und vernichten die Übermütigen. Die Götter haben das Pathos der Distanz erfunden, sie schätzen es nicht, wenn Menschen ihnen zu ähnlich werden wollen.

Andererseits bietet Bescheidenheit keine hinreichende Sicherung gegen das Unheilvolle. Von Epikur ist der Ausspruch bekannt: Gegen das meiste können die Menschen Vorsorge treffen, doch angesichts des Todes leben wir alle in einer Stadt ohne Mauer. Das Sterblichkeitsbewusstsein der Alten ging davon aus, daß Mauerlosigkeit das letzte Wort über die conditio humana bedeutet. Beim Tod hört das Können auf, das Müssen kommt zum Zuge. Und in dem Wort „Müssen“ steckt die ungeheure Schwerkraft der unbesiegbaren Naturgesetze, wie sie von den Alten erfahren wurde. Der Tod und die Notwendigkeit, dieses Paar war in der alten Ontologie  unzertrennlich. Vor diesem Hintergrund versteht man die Enormität des philosophischen Einschnitts, der mit der Sterbeszene des Sokrates gesetzt wurde. Hier beginnt der außerordentliche Gedanke seinen Siegeszug, wonach sogar der Tod etwas sei, was vom Müssen ins Können übersetzt werden solle – griechisch nach dem Vorbild des Sokrates, römisch nach dem Muster der Gladiatoren, die sich ohne eine Miene zu verziehen den Todesstoß versetzen lassen. Diese Idee sickert schon in der mittleren Antike in das Leben der Privatleute ein und wird in der Spätantike epidemisch. Man soll auf keinen Fall, vom Schlag getroffen, kommentarlos vom Sofa fallen, vielmehr möge man dem Tod gegenübertreten wie ein Athlet seinem Gegner. Der philosophische Todesathletizismus ist bald auch in die frühchristliche Märtyrerszene eingedrungen und hat später in der Mönchskultur heftige Blüten getrieben. Man findet in der Biographie des Thomas von Celano über den heiligen Franziskus eine Passage, worin berichtet wird, dieser habe, als er das Ende nahe fühlte, ein Ringkämpferritual aufgeführt: Er entkleidete sich vollständig – eine gewagte Geste, weil seine Mitbrüder bis dahin keine Gelegenheit gehabt hatten zu verifizieren, ob er auch die Seitenwunde Christi besaß –, und legte sich auf den Boden, um in dieser Stellung wie ein antiker Kämpfer in der Palästra den letzten Ringkampf mit dem Widersacher zu führen. Der Verfasser der Vita verwendet an dieser Stelle die formelhafte Wendung: nudus cum nudo, ein Nackter mit einem Nackten, im vollen Bewußtsein dessen, daß der lateinische nudus, griechisch: gymnos, der Nackte, bei den antiken Vorgängern der Mönche kein anderer war als der eingeölte Ringkämpfer. Franziskus zitiert in seiner Sterbepantomime den griechischen Habitus des Gymnasten, des Nacktkämpfers, der sich auf den Agon vorbereitet. Wir müssen das als einen Hinweis lesen, dass die griechische und römische Übersetzung des animalischen Müssens ins menschliche Können hinsichtlich der letzten Dinge das Innerste des christlichen Monastizismus erobert hatte. Noch in extremis soll bei diesen Virtuosen des Glaubens ein Element von Können und Standhalten im Spiel sein – nicht umsonst hatten die Mönche sich schon in den frühen Klöstern des byzantinischen Christentums als die Athleten Christi bezeichnet. Der Widerstand gegen die amechanía macht sich auch hier ganz ausdrücklich bemerkbar. Dabei mag der Umstand mitgewirkt haben, dass der gekreuzigte Christus selbst einen athletischen Topos geschaffen hatte, sofern man der Redaktion der Ereignisse von Golgatha durch Johannes folgt. Bei Jesus war das Hängen am Kreuz nicht nur als eine simple Exekution zu denken, sondern mehr noch als Erfüllung einer Aufgabe.

Raulff:

Und als Aushalten einer Prüfung.

Sloterdijk:

Als Prüfung im Sinne des römischen Theaters der Grausamkeit. Bei Johannes, dem Griechen, geht die Athletisierung Christi so weit, dass er ihm ein Agonistenwort als letzten Ausspruch in den Mund legt, tetélestai, was Luther mit: „Es ist vollbracht!“ übersetzt. Eigentlich sollte es heißen: „Es ist geschafft!“ In dem Wort fallen die Erfüllung der prophetischen Voraussage und die Erfüllung des höchsten Pensums heroischer Passivität in eins. Damit wird Christus zu einem Herakles, der zu seinen Taten, den heroischen ponoi, eine neue hinzufügt, die größte von allen. Ohne diese Aufladung mit agonaler Leidenskunst ist das Christentum, vor allem in seiner mittelalterlichen Ausprägung, nicht zu denken. Gelegentlich wurde die Aufhebung des Sterbenmüssens ins Sterbenkönnen bis zum Sterbenwollen potenziert, namentlich in der Mystik des späten Mittelalters, die sich darum bemühte, die extreme Könnensform des Passivseins auszubilden, bis hin zum Nichtsein. Der Mystiker ist jener, der ruhig hält, wenn Gott an die Stelle des Ich tritt. Er ist ein Athlet des Ausgelöschtwerdens. Bei ihm ist die Abschaffung des Schicksals ans Ziel gekommen, lange vor jeder Aufklärung.

Raulff:

Finden Sie Spuren davon in der modernen Philosophie  wieder? sagen wir in der Philosophie der letzten hundert, hundertfünfzig Jahre?

Sloterdijk:

Sie sind sicher vorhanden, wenn auch marginal. Denken Sie an Schopenhauer und die Folgen.

Raulff:

Und doch ist es bezeichnend für die Moderne, daß in ihr der  Schicksalsbegriff zurückkehrte, ja sogar wieder eine große Rolle spielen sollte.  Bei Lucian Hölscher habe ich jüngst zufällig gelesen, um die Mitte des 19. Jahrhunderts habe ein großer religiöser Kältestrom das abendländische Denken erfaßt, und mit diesem habe der Wiederaufstieg des Schicksalsbegriffs begonnen.

Sloterdijk:

Das ist wahrscheinlich gut gesehen. Das 18. Jahrhundert hatte ja über das Schicksal scheinbar schon endgültig den Stab gebrochen. Damals trat der Prozeß der Aufklärung in seine heiße Phase, das Denken in Schicksalsbegriffen wirkte ein für alle Mal erledigt. Die Aufklärung meinte zu wissen, Menschen haben keine Schicksale, sie machen Geschichte. Schon Leibniz hatte die Nase gerümpft über das, was er destin à la turque nannte.

Raulff:

Türkenfatalismus…

Sloterdijk:

Bis zu Schopenhauer blieb der verächtliche Ausdruck in Umlauf. Er beschreibt Menschen in ontologischer Sklaverei, die nicht auf die eigenen Beine kommen, weil sie sich Schicksalsmächten unterordnen. Wer so denkt, lernt den aufrechten Gang nicht, an dem den Aufklärern so viel liegt, und bleibt außerstande, die Kräfte zu entdecken, die von den eigenen Unternehmungen freigesetzt werden. Für die europäische Aufklärung steht fest, daß die Emanzipation des Menschen nur durch Antifatalismus in Gang kommt. Alle Aufklärung ist ein Unternehmen zur „Sabotage des Schicksals“ – um ein Bonmot von Ulrich Sonnemann zu zitieren. Diese Formulierung ist aufschlußreich, weil sie von Sabotage spricht, als gliche das Schicksal im 20. Jahrhundert einem Kraftwerk, an dem der Revolutionär eine Bombe anbringt. Für Antifatalisten von Voltaire bis Kant ist der Begriff des Schicksals unphilosophisch, er darf im Vokabular der Weltweisheit nicht mehr verwendet werden. Das starke Ich der Aufklärung will künftig ohne Schicksal auskommen, es will die Heteronomie der Ereignisketten durchbrechen, um zuletzt das Schicksal in selbstgemachte Geschichte aufzuheben.

Damit beginnt der lange Prozeß der überangestrengten Subjektivität, der ungefähr mit der Geschichte des neueren Denkens identisch ist. Wir verdanken Odo Marquard die klassische Darstellung der Komplikationen, in die sich das neue scheinbar eigenmächtig geschichtemachende Subjekt der Aufklärung bei seinem Ausgriff in die große Politik verstricken mußte. Die Aufklärer machten unfreiwillig die Erfahrung, wie ihr Fortschrittsoptimismus, ihr Projektüberschwang, ihr Elan der Geschichtsplanung in grenzenlose Überlastungen des menschlichen Ich mündeten. Sie hatten zu erkennen, daß die Geschichte das Feld ist, auf dem es anders kommt als man denkt. Von da an braucht man Entschuldigungen – Marquard nannte dies die Kunst, es nicht gewesen zu sein. Mit den Entschuldigungen bekommen auch die Ausreden Konjunktur, normalerweise in Form von Erklärungen des eigenen Mißerfolgs durch den Widerstand der von nun an so genannten Reaktion.

Dies alles war fürs erste  kein Grund zur Verzweiflung.  Die Entdeckung der Nicht-Linearität des Fortschritts gab Anlaß zu einer Besinnung über das Verhältnis der menschlichen Energien zu den nicht-menschlichen Triebkräften, die die Welt bewegen. Soviel war klar: Aufgrund seiner evident gewordenen relativen Schwäche mußte das post-titanische Ich sich mit der Aufgabe auseinandersetzen, wie denn übermenschliche Alliierte zu finden wären, die ihm bei seinen überschwänglichen Vorhaben zur Seite stünden. Von Anfang an kamen nur zwei Partner in Betracht, mit denen man das Bündnis zur Verwirklichung des opus magnum schließen konnte – die Natur und die Geschichte. Folglich schwelgt das Denken der Spät- und Nachaufklärung in Allianzphantasien in beiden Richtungen, es deliriert über Bündnisse mit der Natur auf der einen und mit der Geschichte auf der anderen Seite.

Wer die Allianz mit der Natur sucht, wird Romantiker: Was das Subjekt aus eigenen Stücken nicht zu leisten vermag, kann eine wohlmeinende alliierte Natur an seiner Stelle und in seinem Sinne voranbringen. Das ist ein Motiv, das seit zweihundert Jahren das europäische Denken mitbestimmt. Hier dreht sich alles darum, wie die Natur als Künstlerin, als Heilerin, als Quelle des Reichtums und als schellingscher Drang zum Licht mit den menschlichen Interessen kooperiert. Im 20. Jahrhundert war es Ernst Bloch, der diese Position am pathetischsten weitergedacht hat. Aus dieser Sicht besitzt die Natur a priori eine Art Zweidrittel-Mehrheit bei allen Unternehmen unseres guten Willens, und wenn wir ihre vorwärtstreibenden Momente in der richtigen Weise wirksam werden lassen lassen, müßte es mit dem Teufel zugehen, wenn das Projekt der Aufklärung nicht ans Ziel käme. Ich will anmerken, daß dieser heitere Begriff der Allianz-Natur sich von der Mitte des 19. Jahrhunderts an eintrübt, dann kommen dunklere Momente obenauf, und unerfreuliche Motive wie: Natur als Konkurrenzkampf, als  abgründige Grausamkeit, als  absichtslose Gärung blinder Kraft und dergleichen treten in den Vordergrund. Schopenhauers und Darwins Impulse wirkten synergetisch in die gleiche Richtung. Zuletzt ist die Natur als Bündnisgröße der Aufklärung weitgehend verloren. Jetzt entsteht der Anschein, als könnten nur Antinaturalismen noch weiter führen. Dann heißt es  „vorwärts zur Kultur“ statt „zurück zur Natur“.

Auf der anderen Seite hat der schwache Mensch nach dem relativen Fehlschlag der Revolution die „Geschichte“ als starken Bündnispartner vor Augen, die Geschichte mit Großbuchstaben und im erhabenen Singular. Sie ist die Göttin, die weiß, worauf es mit der Welt hinauswill. Macht sie bei der Aufklärung mit, dann darf man sich ihrem Zug durch die Zeiten und Räume vertrauensvoll anschließen. In diesem Begriff von Geschichte klingen ältere Bedeutungen nach, von der pronoia der Stoiker über die providentia der christlichen Heilslehre bis zu den philosophischen Prozeß-Mythen der Neoplatoniker, deren Echo noch bei Hegel und Schelling zu hören ist. Auch in dieser Allianz kann das schwache humane Subjekt sich mit einem starken Träger verbünden, der die Macht des Seins auf seiner Seite hat. Dieser bewirkt von sich her, was bloßes Planen und Werkeln menschlicherseits nicht herbeizwingen könnte. Für unser Thema ist dieser Aspekt naturgemäß der interessantere, denn mit der Hypostasierung der Geschichte  entsteht die kulturelle Großwetterlage, in der das Schicksal wieder die Bühne betreten kann. Tatsächlich, sobald Geschichte und Schicksal fusionieren – zunächst  in gemäßigt aufklärerischer Absicht –, ist der Moment für einen Fatalismus zweiter Ordnung gekommen. Für den Einzelnen bedeutet das, daß er sicher sein darf, das Richtige zu tun, sobald er sein endliches Leben in die Mitte des endlosen Geschichtsstroms hineingestellt denkt. Dann begreift er sich selbst als Werkzeug der historischen Bewegung und als Juniorpartner eines überlegenen sinnhaften Geschehens. Diese Metaphysik der Kooperation mit dem globalen Werden lieferte im 19. und 20. Jahrhundert ein Denk- und Empfindungsmuster, das bei Revolutionären, Reformisten, Therapeuten und Künstlern enorme Kräfte freigesetzt hat, schöpferische wie kriminelle. Aber so wie das Konzept der Natur sich  mit der Zeit eingetrübt hatte, ist auch das der Geschichte im Lauf der Zeit stark nachgedunkelt. Zwar spürte jeder Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts unwillkürlich, daß es ja irgendwie mit der Welt immer weitergeht, aber an der Sinnhaftigkeit der Bewegung kamen stärkere Zweifel auf. Zuletzt wird das große Undsoweiter von vielen nur noch wie ein Malstrom, ein Sog in den Abgrund empfunden. Das ist der Moment, in dem der Schicksalsbegriff mit geradezu frühantiker Färbung wiederkehren kann – analog zu jener griechischen moira bzw. der ananke, von der es in frühen dunklen Andeutungen hieß, sie sei älter und mächtiger als die olympischen Götter.

Raulff:

Aber er kehrt bei den Modernen vielfach auch als ein Name für eine ereignishafte Tat wieder, mit der ein großer Einzelner sich den blinden Mächten entringt. Schicksal heißt jetzt der plötzliche Schlag ins verhängnisvolle Gewebe, der folgenreiche Akt … Das Stichwort hierfür heißt Plötzlichkeit. Mit einem Mal ist das alte Gespinst zerrissen. Nietzsche: „Ich bin ein Schicksal…“

Sloterdijk:

Wer die ewige Wiederkehr doziert, darf wohl erklären, „warum ich  ein Verhängnis bin“…

Raulff:

Oder dann bei den Theoretikern der Dezision: Für sie heißt Schicksal  der jähe Akt, der das  Gewebe des Gewesenen zerreißt.

Sloterdijk:

Der Dezisionismus und die Philosophie der Tat sind in meinen Augen Zersetzungsprodukte des klassischen aufklärerischen Historismus. Für die Dezisionisten gibt es einen Rest von menschlichem Geschichtemachen, in Form von fatalem Epochemachen. Das geschieht mittels plötzlicher Entscheidungen, mit denen der große Handelnde sich aufschwingt, um auf der Welle des Weltlaufs zu reiten. An dieser Stelle kommt die von Nietzsche aufgebrachte Unterscheidung zwischen dem aktiven und dem passiven Nihilismus ins Spiel. Ohne sie kann man vom Gang der Ideen im 20. Jahrhundert kaum etwas begreifen. Der Nihilismus in beiderlei Gestalt ist die unvermeidliche Kehrseite des Historismus. Er muß überhand nehmen, sobald man die klassische Annahme fallen läßt, alle Epochen seien gleich nahe zu Gott. Dann gilt, daß Geschichte das ist, was letztlich zu nichts führt. Hierzu gibt es im Prinzip nur die beiden Stellungnahmen, die Nietzsche mit seiner Unterscheidung von passivem und aktivem Nihilismus portraitiert hat. Zum einen, man lässt sich treiben…

Raulff:

Nirvana…

Sloterdijk:

Nirvana, Spaß und Drogen. Die Drogenwelt ist in diesem Kontext besonders signifikant, weil sie nicht nur das Desinteresse an Geschichte ausdrückt, sondern das Desinteresse am In-der-Welt-Sein als solchem. André Malraux hat in „La Condition humaine“ einen älteren Chinesen geschildert – ich glaube, es war der Vater eines der jungen Revolutionäre, von deren Treiben der Roman erzählt –, der die Wahl getroffen hatte, die Welt in der Unwirklichkeit untergehen lassen. Bei der Darstellung des Opiumessers bringt Malraux eine extreme Ironie zum Klingen, weil in den Augen dieser Figur sogar das vermeintlich Ernsthafteste, was Menschen in der Welt von damals unternehmen konnte, die Revolution, in der globalen Bedeutungslosigkeit verschwimmt. Was für eine furchtbare Welt, dieses China der späten 20er Jahre, durch die Optik des französischen Romanciers gesehen: Die Väter verträumen ihr Leben in Opiumrausch, während sich die Söhne im Morden für die Zukunft üben. Malraux hat die Figur des Mannes auf dem Opiumlager eindeutig nur vor dem Hintergrund von Nietzsches Theorie des passiven Nihilismus präsentieren können. Zugleich verdeutlicht er die Haltlosigkeit des revolutionären Kampfs, weil auch dieser hier bloß Nihilismus in Aktion bedeuten konnte. Wie das Opiumessen die Flucht aus der Wirklichkeit impliziert, so das revolutionäre Handeln der Shanghaier Aktivisten von 1927 die Flucht über die Wirklichkeit hinaus. Exemplarisch erscheint das in den beiden stärksten Szenen von La condition humaine: gleich am Beginn, als der junge Kämpfer Kyoo seinen ersten Mord begeht und den Surrealismus des Tötens für sich entdeckt, dann wieder gegen Ende des Romans mit dem Selbstopfer des Kameraden Katov, der die einzige Zyankalikapsel, die notfalls ihm selbst einen schnellen Tod garantieren sollte, an zwei junge chinesische Mitkämpfer verschenkt, damit sie in der Nacht vor der Exekution das leichtere Ende haben. Er selber nimmt es auf sich, am folgenden Morgen von den Soldaten des Koumintang im Heizungskessel einer Lokomotive lebendig verbrannt zu werden Das zeigt die aktiv nihilistische Ethik in extremer Lage. Malraux gehört zu den Zeugen des Jahrhunderts, weil er die Identität des kommunistischen Engagements mit dem aktiven Nihilismus früh erfaßt hatte. Im übrigen darf man sich fragen, ob nicht auch Carl Schmitt auf der Linie des aktiven Nihilismus argumentiert, ja ob sein aufgesetzter Katholizismus nicht nur eine Maske des Nihilismus war, diesmal mit dezisionistischer Bemalung. Gerade, weil alles zu nichts führt, sind in seinen Augen die großen Gestalter berufen, Entscheidungen von fataler Tragweite zu treffen. Wer das Weltende aufschiebt, das dennoch kommen wird, soll freie Hand haben, meint der schreckliche Jurist. Die schmittschen Großtäter haben die Lizenz, übermenschliche Risiken eingehen – wie Hitler, als er den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brach. Im Rückblick haben wir allen Grund zu der Feststellung, daß der aktive Nihilismus mit seiner Pose des Neubeginns aus der jähen Entscheidung und mit seinem Glauben an den Nullpunkt und die große Zäsur summa summarum eine Enttäuschung war. In Wahrheit hat nichts Altes ganz geendet, nichts wirklich Neues hat begonnen. Wer weiter leben will, muß immer am letzten Zustand anschließen und in irgendeiner Richtung weitermachen.

Raulff:

Ist es nicht eher so, daß das historische Denken stets zwischen einer zäsurophilen und einer zäsurophoben Haltung schwankt? Allem Anschein nach sind wir aktuell in einer Phase, die die Zäsuren fürchtet. Wobei man wohl, wie Sie richtig sagen, immer beides braucht und zu bedenken hat. Der passive Nihilismus greift um sich, bis der aktivistische Nihilismus dazwischengeht. Der zerschlägt den passiven und verschluckt ihn in einem Projekt. Man hat übrigens beobachtet, wie die Denkfigur des Nihilismus noch im Gerichtssaal von Nürnberg zur Erklärung und Entschuldung verbrecherischen Handelns bemüht wurde, etwa bei den Einsatzgruppenprozessen. Um die Angeklagten zu entlasten, wurde der europäische Nihilismus als eine globale Schuldverkettung präsentiert, von der die deutschen Katastrophentaten nur ein Teilausschnitt waren, das schuldhafte Handeln der Einzelnen dabei wiederum nur ein mikroskopisches Fragment des fatalen Ganzen. Man muß sich das vorstellen: Solche Argumentationsfiguren reichten bis in die Verteidigungsstrategien der Nürnberger Anwälte.

Sloterdijk:

Auf diesem Gebiet hat Heidegger leider Besonderes geleistet. Bei ihm erreichen die indirekte Apologetik der Entgleisungen des 20. Jahrhunderts und ihre Überhöhung zu Schicksalsverfügungen einen bedenklichen Höhepunkt.

Raulff:

Vorbereitet in der Struktur der Sorge…

Sloterdijk:

In Heideggers Frühwerk kündigt sich die Wende zum Denken in Begriffen des „Geschicks“ mit der existenzialen Grundstruktur der Sorge an, wobei man von Anfang an die medialen Denkfiguren beachten sollte: Nicht ich mache mir Sorgen, sondern die geschickte Sorge nimmt mich in ihren Dienst. Im mittleren Werk und im Spätwerk wird der Begriff des Geschicks an das Zivilisationsschicksal insgesamt angedockt, welches bekanntlich Technik lautet. In dem Zusammenhang hört man dann fatale Sätze wie jene, dass die industrialisierte Landwirtschaft und das massenhafte Herstellen von Toten in Konzentrationslager aus derselben….

Raulff:

… Prozesslogik hervorgehen…

Sloterdijk:

… und aus derselben schicksalhaften Vergegenständlichung und Vernutzung aller Dinge durch das Herstellen und Vorstellen entspringen, sprich aus der Raserei der sich ermächtigenden Ge-stell-Subjektivität. Man weiß noch immer nicht, was man von solchen Aussagen halten soll. Mit ihnen wird die Möglichkeit, überhaupt an etwas schuldig zu sein, außer Kraft gesetzt. Etwas von ferne Vergleichbares erleben wir durch den neurologischen Hype, dem zur Stunde nichts und niemand widersteht. Mit dem wird ja ein erneuter Versuch gestartet, den Fatalismus unter das Volk zu bringen, diesmal als Neurofatalismus. Die Kunst, es nicht gewesen zu sein, bleibt so aktuell wie zur Zeit der ersten Rückschläge im Projekt der Aufklärung. So gesehen hat Marquardt tatsächlich den Schlüssel zum moralischen Ökosystem der Moderne geliefert, und man versteht, was damit besagt ist: In dem Moment, in dem die menschliche Handlungskompetenz explosiv zunimmt, setzt eine Nachfrage nach Unverantwortlichkeit ein. Alle reden von Verantwortung, doch in Wahrheit haben die meisten ein Interesse daran, die Möglichkeit der Zurechnung von Handlungen zu Tätern zu verwischen.

Raulff:

Das ist es, was Marquardt als Refatalisierung beschreibt. Insofern hat ein Konzept wie Schicksal, oder was sonst an Äquivalentem geboten wird, natürlich immer auch eine Entlastungsfunktion, nicht nur individuell, sondern auch auf der Ebene der Gattung.

Sloterdijk:

Das stärkste Bild für die globale Verlegenheit, derentwegen man Entlastung braucht und sucht, hat Nietzsche geprägt, als er den Menschen als ein Wesen beschrieb, das auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängt. In einer solchen Situation überlegt man es sich zweimal, ob man dem Passagier das Erwachen raten soll. Den Abstieg vom Tigerrücken hat niemand geübt. Nun neigen manche aufklärerische Moralisten zu der Ansicht, es gebe gar keine Tiger, ihnen zufolge stehen wir von Anfang an auf festem Boden, verantwortlich für uns selbst von Kopf bis zu den Zehen. Für sie gibt es kein dunkles Unten, das uns ermöglicht und gelegentlich verschlingt. Autoren wie Heidegger oder Friedrich Georg Jünger haben dagegen das Monströse ins Zentrum ihrer Überlegungen über die moderne Welt gestellt, der erste mit seiner Theorie des Ge-stells, die von einen Über-Tiger namens Technik handelt, der zweite in Form einer Meditation über den Titanismus der modernen Zivilisation. Seither hat das Gespräch über das Unheimliche, das den Unternehmungen der Modernen zugrundeliegt, nicht mehr ganz aufgehört. Bei solchen Überlegungen kommen wir uns vor wie Insekten im Panzer eines Drachen. Träumer auf dem Rücken eines Tigers oder Insekten auf den Schuppen eines Ungeheuers, das sind die Bilder, die dem In-der-Welt-Sein nach dem Platzen der Täterillusionen im Gefolge der Französischen Revolution und nach der Implosion der Napoleon-Blase in unserer Weltgegend  Kontur gegeben haben.

Raulff:

Hier wirkt die Refatalisierung nicht bloß entlastend, sondern auch bedrückend.

Sloterdijk:

Fürs erste trifft aber das Stichwort Entlastung die Sachlage am besten. Um das zu verstehen, muß man in die Ära der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege zurückgehen. Nach den heroischen Tagen treiben sich überall Verlierer herum und suchen Ausreden. Da kommt das Schicksal gerade recht. Man hat Napoleon auf die ferne Atlantikinsel verbannt, die Helden sind pensioniert, die Geschichte stagniert, eine starke Nachfrage nach Unverantwortlichkeit liegt in der Luft. Man hat es gut gemeint, es ist anders gekommen. Victor Hugo hat in Les Misérables eine von den traurigen Figuren portraitiert, die aus den Erinnerungen an die großen Tage ein klägliches Geschäft gemacht haben – den Sergeanten von Waterloo, einen Veteranen, der davon lebt, zu sagen, er sei dabei gewesen. Kierkegaard hat in seinem wenig bekannten Essay „Eine literarische Anzeige“ die Erfahrung der Windstille nach dem Tumult, der die Geschichte war, nachdrücklich beschrieben – in diesem Kontext findet man übrigens die erste Publikumsbeschimpfung der modernen Philosophie, von der das Man-Kapitel aus Heideggers Sein und Zeit inspiriert scheint. Kierkegaard entdeckt hier ein Ungeheuer neuer Art, einen Riesen der Charakterlosigkeit, eben das moderne Publikum, mit dessen Formierung die Kunst, es nicht gewesen zu sein, in die bis heute aktuelle Phase eintritt. Publikum ist das, wovon Heidegger später sagen wird: „Jeder ist der andere und keiner er selbst.“ Sein  Schicksal ist es, für die wirkliche Geschichte zu spät gekommen zu sein.

Raulff:… die Epigonen … Immermann… Alle Taten, die es wert waren, getan zu werden, stehen schon in den Geschichtsbüchern, alle Geniewerke, die es wert waren, geschrieben zu werden,  stehen schon in der Bibliothek.

Sloterdijk:

Zugespitzt heißt das, daß schon mit Waterloo die Geschichte zum Stillstand gekommen ist. Die erste prägnante Posthistoire-Ära fällt in die Jahre 1815 bis 1818, als Frankreich während der dreijährigen Zeit der Besatzung durch die Sieger von Belle Alliance in eine politische Katatonie verfiel – eine Episode, die aus dem französischen Gedächtnis gelöscht ist, genauer gesagt, die nie in es einging. Mit der bourbonischen Restauration von 1818 bis 1830 gewann das Land den Status der souveränen Nation zurück, doch um den Preis des Stillstands, der politischen und ideologischen Regression und der Zersplitterung in ein Chaos erbittert verfeindeter Parteien. Unter der bourbonischen Erstarrung wurde die Posthistoire-Stimmung chronisch. Man muß einmal die aufgeblasenen Prunkportraits von Louis XVIII im Lilien-Hermelin gesehen haben, um zu begreifen, wie Posthistoire und Simulation zusammengehören. Die Franzosen haben als erste die Erfahrung gemacht, daß man ganze Epochen fälschen kann. In dieser Zeit konnte man nur noch Mittelalterromane oder Memoiren jenseits des Grabes schreiben, wie Walter Scott und Chateaubriand, die Großmeister der Ersatzgeschichte und des Ersatzlebens, es vorgemacht haben. Der Hunger nach Schicksal ist aus dieser Konstellation zu begreifen. Mit der posthistorischen Paralyse kommt das Heimweh  nach den schlimmen bewegten Zeiten auf. Im übrigen gibt in es der jüngeren Literatur über Heidegger und Co. den Topos „Sehnsucht nach Härte und Schwere“, der die heroistische Disposition der jungkonservativen Geister des frühen 20. Jahrhunderts recht gut charakterisiert. Die Formel paßt schon auf das postnapoleonische Zeitalter. Sie bezeichnet das Heimweh nach den Tagen, in denen die Franzosen von Siegesmeldungen lebten. Diese Nostalgie ist bis heute nicht ausgestorben. Unter den aktuellen Politikern ist Dominique de Villepin derjenige, der die episch-heroische Geschichtsauffassung am deutlichsten weiter in sich trägt.

Raulff:

Etwa in der Bainville-Tradition, die den Royalismus auf dem Umweg über die Action française ins 20. Jahrhundert transportierte.

Sloterdijk:

De Villepin, zugleich Gaullist und lyrischer Bonapartist, hat über die Hundert Tage Napoleons ein ziemlich beachtliches  Buch geschrieben, mit nostalgischem großem Atem, ein Buch, das verrät, wie Frankreich aus der Sicht des Autors in seinen besten Tagen einmal war: heroisch und großartig, wenn auch unglücklich im Abschluß.  Es läßt ahnen, welche Rolle der Autor in seiner erhabenen Nation gern spielen würde.

Raulff:

Typisch französisches geschichtsmythisches Denken, erstaunlich bei einem heutigen Politiker.

Sloterdijk:

Es ist ein wenig das Drama des begabten Kindes von rechts, das sich eine Geschichte mit Helmbüschen und klingendem Spiel ausdenkt. Doch auch auf deutschen Boden sind wir mit analogen Übungen vertraut. Hier wie dort geht es bei solchen Übungen darum, nach einer signifikanten militärischen Niederlage, nach einem spürbaren Ende der Geschichte einen beflügelnden Neuanfang  zu postulieren. Dieses Schema von Ende und Neubeginn des Weltdramas in Nachkriegszeiten kann man auch am Fall des jungen Heidegger bis ins Kleinste durchdeklinieren. In der Vorlesung des Wintersemesters 1929/30 über die Grundbegriffe der Metaphysik, findet sich die grandiose Langeweile-Abhandlung, in der Heidegger die Welt von 1929 so beschreibt, als sei nun endgültig alles vorbei.  Er fragt: „Wie steht es denn eigentlich um uns?“ und antwortet  „Es steht um uns so, dass uns im Tiefsten nichts mehr bewegt.“ Die eigene Epoche läßt uns leer. Das ist die Freiburger Variante des Theorems vom Ende der Geschichte. Natürlich führt Heidegger diese Überlegungen nur in strategischer Absicht durch, da er sich von der äußersten Vertiefung der Langeweile den dialektischen Umschlag der Sache in ihr Gegenteil, die höchste Gespanntheit, verspricht. Er will die Wiedergeburt der Geschichte aus dem Geist des Leergelassenseins von allem erzwingen. Heidegger zufolge ist die tiefe Langeweile die philosophischste der Stimmungen: In ihr erleben wir die Verlegenheit einer seinsverlassenen Existenz. Im letzten Nichts-mehr-zu-tun-Haben der finalen Langeweile wird das Sein im Modus der völligen Absenz erfahren. Sind wir erst einmal ganz von ihr durchdrungen, vernehmen wir, zuerst von ferne, dann zunehmend deutlicher, den wiederkehrenden Ruf des verzeitlichten Seins, das ein neues Kapitel Geschichte in Auftrag gibt: „Das Ereignis braucht dich!“ Wer dergleichen hört, steht in der Versuchung, sich der erstbesten lärmenden politischen Bewegung  anzuschließen…

Raulff:

… die natürlich den direkten Ausweg aus der Schicksalslosigkeit verspricht.

Sloterdijk:

Natürlich, weil sie selber mit brachialer Gewalt auf die Bühne springt, um die stillstehende Geschichte wieder voranzutreiben. So gesehen hätten es bei Heidegger auch die Kommunisten sein können, deren revolutionärer Historismus gut zu seinem ontohistorischem Ansatz gepaßt hätte. Doch ihr Angebot entsprach nicht Heideggers lokalem Profil, das näher beim nationalbolschewistischen Aufbruch, Niekisch und Co., lag. Jedenfalls kam in den Tagen der nationalen Revolution der Begriff des Geschicks in seiner massivsten Form wieder zum Tragen. Die große Geschichte, meinte Heidegger zu wissen, wird geschickt, und zwar vom erhabensten Absender, dem Sein. Doch da das schickende Sein sich über das Dasein vermittelt, braucht es Geschickte, und das werden die seltenen Menschen sein, die zugleich ergriffen und entschlossen sein können. Dies kennt man sonst nur von den christlichen Aposteln, die eine unbedingte Botschaft weitertragen. Wenn Ergriffenheit und Entschlossenheit in eins fallen, entsteht ein mediales Handeln, ein gehandeltes Handeln sozusagen, das  Geschichte macht, indem es dem Ruf des Seins folgt. In der Sache gleicht das dem Schema der ewigen Liebesgeschichten zwischen Mensch und Gott. Solche Geschichten fangen regelmäßig mit dem Ergriffenseinwollen des leergelassenen Subjekts  an. Wäre man erst einmal richtig ergriffen, so denkt der Ungläubige, der glauben möchte, dann dürfte er sich berechtigterweise nach vorn stürzen und wüßte endlich, was zu tun ist. In Wahrheit geht es meistens genau andersherum: Wer schon der Neigung folgt, sich nach vorn zu stürzen, denkt sich die passende Ergriffenheit hinzu.

Raulff:

Der Ergriffene steht also auf beiden Seiten der Relation Passivität-Aktivität. Dadurch vollzieht sich eine enorme Verstärkung, eine Dramatisierung der Existenz. Bei der Ergriffenheit handelt es sich um eine Versunkenheit oder Ergebenheit, die gewesene Bischöfin würde sagen, man liegt noch tiefer in Gottes Hand. Auf der anderen Seite erzeugt die Erschlossenheit eine Aufsteigerung…

Sloterdijk:

Über solche Figuren der medialen Subjektivität denke ich seit Jahren, seit Jahrzehnten nach. Ich komme dabei immer wieder auf einen kurzen luziden Aufsatz mit dem Titel „Über den Unterschied zwischen einem Genie und einem Apostel“ zurück, den Kierkegaard um 1848 im Rahmen seiner Polemiken gegen den dänischen Geistlichen Adler verfaßt hat. Dieser Aufsatz, klein im Umfang, gewaltig in seinen inneren Dimensionen, ist die Magna Charta einer spirituellen Medientheorie. Man sollte ihn alle zwei, drei Jahre wieder lesen, um sein analytisches Besteck scharf zu halten. Kierkegaard beschreibt auf engsten Raum zwei strikt entgegengesetzte Modi des Kommunizierens, den genialen und den apostolischen. Die geniale Kommunikation beruht auf Selbstausdruck, sie entspricht dem ästhetischen Modus des In-der-Welt-Seins. Wie Kierkegaard sagt, geht sie aus der humoristischen Selbstgenügsamkeit des Genies hervor. Das Genie hat genug getan, wenn es seine inneren Welten in kunstvollen Werken manifestiert, ohne Rücksicht darauf, ob die Mitwelt ihm folgt oder nicht. Genie braucht keine Autorität. Die Bewunderung des Publikums ersetzt ihm reichlich, was auf der Seite der Wahrheitsmitteilung fehlt. Ganz anders beim Apostel: Dies ist der Mensch mit einer absoluten Teleologie, da er von einem unbedingten Um-zu, einem unausweichlichen Auftrag bewegt wird. Er stellt sich unter einen Anruf von oben und gewinnt Autorität in dem Maß, wie er sich auf diesen Ruf beruft. Hierbei entsteht ein performativer Wirbel: Paulus kann sich immer nur darauf berufen, dass Gott ihn berufen habe, einen äußeren Beweis hierfür kann er naturgemäß nicht beibringen. Er kann es nur im eigenen Sprechakt statuieren: Paulus, ein Knecht Christi – das muß er endlos wiederholen, und indem er es wiederholt, stellt er seine Existenz unter die Sendung, die ihn mobilisiert und verbraucht. Weil er sich dem absoluten Ziel unterordnet, beansprucht er Vollmacht. Und das ist der Begriff, auf den es ankommt.

Mir scheint, die Frage nach der Vollmacht war Heideggers großes Problem bis zuletzt. Er hegte die Aspiration auf Vollmacht für seine Botschaft, doch er suchte sie außerhalb der christlichen Sukzession, in einer philosophischen Nachfolgereihe, als beruhe auch die Berechtigung zu seinem Metier auf einer quasi-apostolischen Kette, die vom Sein selbst inauguriert und aktualisiert wird – andernfalls wäre ja Sein nicht Zeit, das zeitliche Nacheinander von Ideen wäre kein Wahrheitsgeschehen, sondern eine bloße Folge von sich ablösenden Paradigmen. Der griechische Anfang ist für Heidegger so überragend wichtig, weil in ihm die eigentliche Sendekette begann – obgleich bereits mit Platon die Störsender überhand nehmen. Das Sein als Zeit schickt die Seinen aus, als sollten auch diese hingehen in alle Welt und die Menschen taufen im Namen der Grundbegriffe der Metaphysik: Welt – Endlichkeit – Einsamkeit. Solche ausgeschickten Menschen müssen in der Ekstase des Botschafterseins existieren, wie vom Sein selbst in Marsch gesetzt. Und als ein als solcher absolut in Marsch Gesetzter wollte Heidegger gelten.

Raulff:

Er wollte selber ein homme fatal sein.

Sloterdijk:

Zugleich war ihm klar, daß er Autorität nur erlangt, wenn er sich bei einem höchsten Absender rückversichert. Das ist es, was ihn von den Nihilisten unterscheidet, das ist der Grund, warum auch er noch fromm ist. Die wirklichen Nihilisten lassen den Absender hinter sich fallen und erklären sich selber zur force majeure. Ein gnostisierender Geist wie Heidegger, der im Frühwerk protestantisiert, im Spätwerk katholisiert, weiß immer, er muß das Sein hinter sich haben, weil das Sein mit dem Gott des Neuen Testaments die Funktion der absoluten Absendermacht teilt. Die gnostische Note kommt in Heideggers Werk dadurch zum Klingen, daß er die Funktion Gottes nicht im Schöpfertum sieht, sondern im Absendersein. Sein Gott ist nicht der, der Sonne, Mond und Erde geschaffen hat, sondern der, der in die dunkle Welt Hinweise sendet, wie die Rettung zu denken wäre. Das einzige Wissen, das in diesem Ansatz zählt, ist Rettungswissen. Im übrigen entspricht ein solches Arrangement dem Traum von absoluter Autorschaft: Es spiegelt den Willen, vom Stadium der Talentproben auf die Ebene der Wahrheitsübermittlung überzugehen. Das ist die Autorenphantasie par excellence, die mit bloßer Genialität nicht zu erfüllen ist. Ein deprimiertes Genie kann unendlichen Spaß treiben und sich am Ende doch umbringen. Dem bloßen Genie gelingt die Verwandlung in einen Boten nicht.

Raulff:

Sie spielen auf David Foster Wallace an?

Sloterdijk:

Ja, sicher. In seinem Fall war es mit der kierkegaardschen humoristischen   Selbstgenügsamkeit des Genies nicht getan, denn seine depressive Verfassung kam ihm in die Quere. Was Heidegger betrifft, so war er von solchen Komplikationen Lichtjahre entfernt, weil er sich…

Raulff:

…immer aufgehoben fühlte.

Sloterdijk:

Er war, wie es scheint, immer in etwas Haltgebendem zu Hause.

Raulff:

Er fühlt sich strukturell geborgen, in was auch immer, in der Sprache oder im Seinsgeschick oder in der Landschaft. Es gibt bei ihm ständig die Zuversicht, dass da eine tragende Macht ist.

Sloterdijk:

Ich bilde mir ein, inzwischen auch etwas besser zu wissen, wie das kam. Seit einigen Jahren fahre ich regelmäßig in den Schwarzwald in die Region zwischen Sankt Blasien und Todtnauberg. Eine seltsame Gegend: Wenn man sich über längere Zeit dem Anblick der Bauernhäuser dort aussetzt und ihre Anmutung auf sich wirken läßt, bewegt sich etwas im Inneren des Betrachters. Diese Schwarzwaldhäuser besitzen eine archetypische Aura. Man muß sich klarmachen, was es für Menschen, die darin leben, bedeutet, wenn drei Viertel des Hausvolumens auf das Dach entfallen. Das Dach ragt so weit vor, dass es das ganze übrige Gebäude in sich einzuschließen scheint. Gluckenhäuser…

Raulff:

Ein Inbegriff von Behütetsein…

Sloterdijk:

Behütet in der höchsten Potenz, geborgen wie am siebenten Tag der Schöpfung. Manche Häuser sind von einer Schönheit, dass man  stehenbleiben möchte und sagen: „Angekommen.“

Raulff:

Die Hut, in die Hut nehmen, hüten, Hüter des Seins… solche Motive spielen beim späten Heidegger die herausragende  Rolle.

Sloterdijk:

Ebenso wie das Ge-birg, das Bergen, die Verborgenheit. In diesen einhüllenden Häusern ist das alles unmittelbar gegeben. Selbst wenn man das ganze Jahr nicht auf den Speicher geht, lebt man mit  seiner Präsenz. Er ist der Prototyps des Ge-birgs, unter dem sich ein behütetes Dasein entfaltet. Das wirkt sehr anrührend. Das Haus wird hier zum Wohn-Zeug – und  wenn Wohnen und Denken zusammengehören, ist das Haus zugleich Denk-Zeug und Welt-Zeug. Durch den Aufenthalt in der Heidegger-Region habe ich Zugänge zu manchen seiner Gedanken gefunden, den man durch die Lektüre unmöglich gewinnen kann. An Heideggers berüchtigter Hütte selbst findet man von alledem übrigens keine Spur, die ja nur ein ärmlicher Unterstand ist, eine grüngestrichene Baracke.

Raulff:

Ich bin nun doch froh, dass wir – auf dem Umweg über die mentalen Befindlichkeiten des späten Heidegger – einer positiveren Bestimmung des Begriffs näher kommen. Bisher haben wir das Motiv überwiegend in negativen Modi wie Kompensation, Entlastung, Ausrede, Flucht nach vorn usw. beschrieben. Ich wollte Sie schon die ganze Zeit fragen: Sehen Sie nicht auch eine legitime positive Gebrauchsweise dieses Begriff? Hat er für Sie auch heute noch ein halbwegs sinnvolles Anwendungsfeld?

Sloterdijk:

Sie meinen immer noch das Schicksal?

Raulff:

Ja, ja, ich bleibe ganz obsessiv dabei …

Sloterdijk:

Nun ja, der Begriff bleibt sinnvoll, wenn auch in viel engeren Grenzen als in seiner antiken Anwendung. Die Parzen haben ihre Scheren vor einer Weile beiseitegelegt. Die Moira, die Ananke, das Fatum, das Kismet, das alles können wir nicht reanimieren. Ein umformatierter, kleinerer und bescheidenerer Schicksalsbegriff ist an der Zeit. Er taucht für uns im dritten Akt des ideengeschichtlichen Dramas auf, das in Europa im 17. Jahrhundert in Gang gekommen war. Wir haben es ja schon angedeutet: Im ersten Akt wurde das Schicksal von der rationalistischen Seinsauslegung verschluckt. Bei Spinoza erscheint die Welt als Gesamtkunstwerk aus Kausalitäten. Damit wird das Fatum in Naturgesetze aufgehoben. Nun kann sich das Schicksal zur Ruhe setzen, weil sowieso alles nach guten Notwendigkeiten geschieht. Die notwendigen und die zureichenden Bedingungen machen die Dinge unter sich aus. Der Fatalismus verschwindet im universalen Kausalismus, später kann er vorübergehend auch im Optimismus der Praxisphilosophie aufgehen. In deiner Brust sind deines Schicksals Sterne, heißt es in einer klassischen Abmahnung gegen den astrologischen Aberglauben. Das Zeitalter des Selbstbestimmungspathos bricht an, in dem man heteronome Schicksalsmächte schlechterdings nicht mehr brauchen kann.

Doch dabei wird es nicht lange bleiben. Nachdem sich die erste naive Praxiswelle überschlagen hat, setzt die zweite Phase ein. Die Evidenz der alten und neuen Heteronomien zwingt sich uns auf und überflügelt den aufklärerischen Antifatalismus. Neofatalismen übernehmen das Kommando, seit offensichtlich wurde, daß es anders kommt, als man denkt. Die gegenaufklärerischen Tendenzen feiern Revanche. Oswald Spengler meinte geradezu, der tiefere Geist wird sich immer zum Begriff des Schicksals hingezogen fühlen. Selbst die größten Gewächse auf Erden, die Hochkulturen, unterliegen dem Fatum in Form der morphologischen Notwendigkeit. Die Kulturen laufen ab wie Pflanzenleben oder tausendjährige Spieluhren, und unser Leben ist mit ihnen synchronisiert. In dieser Tonart ist ein Gutteil der neueren Schicksalsliteratur verfasst. Sie verarbeitet das Dunkle in unseren Daseinsbedingungen affirmativ – von Goethes Urworten Orphisch über Nietzsches amor fati bis zum retour du tragique. Über das letzere Motiv haben in Frankreich Autoren wie Jean-Marie Domenach, von einem katholischen Standort aus, und Michel Maffesoli, vom Standort des postmodernen Pluralismus aus, gesprochen.

Schließlich sind wir in eine dritte Phase eingetreten, in der wir vom prometheischen Rationalismus der Aufklärung ebenso weit entfernt sind wie von den koketten Irrationalismen der Gegenaufklärung. Aus dieser Grundstellung läßt sich eine abgeklärte Gesamtansicht des Feldes gewinnen. Wir finden uns am Ende der fatalen Parabel: Auf die aufklärerische Außerkraftsetzung des Begriffs und seine irrationalistische Revitalisierung folgt jetzt die nachaufklärerische Abklärung.

Raulff:

Wobei es natürlich gelegentlich Einspruch gegeben hat. Sie haben ja selber Marquardt genannt, der den Begriff benutzt, um gegen den Machbarkeitswahn der technokratischen Aufklärung protestieren, und ähnlich tut das ja auch Kosellek.

Sloterdijk:

Beide sind aus meiner Sicht schon der Position „Abklärung“ zuzuordnen. Der Großmeister auf diesem Feld in jüngerer Zeit war natürlich Niklas Luhmann. Im Blick auf ihn hatte ich mir in dem anfangs erwähnten Gespräch mit Heiner Geisler erlaubt zu behaupten, das tiefste Inkognito des Schicksalbegriffs in der Moderne sei der von Luhmann verwendete Begriff der Ausdifferenzierung von Subsystemen. Möglicherweise wären ihm die Haare zu Berge gestanden, dennoch scheint mir, daß dies eine sinnvolle Äußerung war. Wenn Luhmann von Ausdifferenzierung spricht, klingt das fast so, als habe er ex officio mitgeteilt: „Nicht nur die Bücher haben ihre Schicksale, auch die Systeme.“ Das Schicksal der sozialen Systeme ist, dass sie von einem gewissen Grad der Komplexität an sich funktional differenzieren. Man merkt dies unter anderem daran, daß sie von da an für den common sense undurchdringlich werden. Sobald sich ein System ausdifferenziert hat, kann man es nicht mehr mit der Pauschalvernunft des Alltags einholen, da es eigengesetzlich und selbstreferentiell geworden ist. Expertenvernunft und Alltagsvernunft entfremden sich voneinander. Der Experte hat die Aufgabe, den Laien zu erklären, dass die Dinge im ausdifferenzierten Subsystem funktionieren, wie sie funktionieren, und daß es nicht anders sein kann, auch und gerade wenn es dem gesunden Verstand absurd erscheint. Man kann die Sachlage auch anders ausdrücken: Bei der Ausdifferenzierung erreichen soziale Systeme die Ebene, auf der den Adressaten der soziologischen Aufklärung zugemutet wird zu verstehen, dass die Gesellschaft keine logische Mitte hat und kein wahres Selbst hervorbringt. Es gibt in der Gesellschaft sozusagen keine Gottesstelle, an der sie ins eigene Innere schauen könnte. Auch Soziologie taugt nur noch etwas in dem Maß, wie sie versteht, dass sie ihren Gegenstand nicht wirklich versteht…

Raulff:

Also steht auch Luhmann auf der Seite der Nachaufklärung?

Sloterdijk:

Luhmann würde ich nach Koselleck und Marquard als den Dritten im Bunde der Abklärer nennen. Gemeinsam ist ihnen die objektive Ironie, mit der sie auf die Resultate des historischen Aktivismus zurückblicken. Abklärung ist immer postoptimistisch.

Raulff:

In ihrer Zeit verkörperten sie die Position des Einspruchs gegen die sozialtechnologische Ideologie, die noch den 70er Jahren fröhliche Urstände feierte, das heißt gegen den Glauben an die Machbarkeit und Planbarkeit von allem.

Sloterdijk:

Der Schicksalsbegriff wurde einer Modernisierung bedürftig, weil wir nicht mehr so grobes geschichtsontologisches Geschütz auffahren können wie im 19. Jahrhundert üblich. Die semantischen Gehalte, die im rezyklierten Schicksalsbegriff enthalten sind, können jetzt etwas feiner aufgelöst werden. Um ein Beispiel zu geben für eine Bedeutungsnuance, die man aus dem Komplex der Fatalitätsdiskurse herausgelöst hat, nenne ich den Begriff des Irreversiblen, wie er in der Thermodynamik und in modernen Prozeßtheorien aufgekommen ist. Während die menschliche Geschichte das Reich der zweiten Chancen darstellt, ist die Sphäre der physikalischen Prozesse durch Unwiederholbarkeit und Unumkehrbarkeit bestimmt. Ein anderes Beispiel bietet der Begriff des Unverfügbaren: In Theologenkreisen hat dieser Ausdruck während der letzten Jahrzehnte eine beachtliche Karriere hingelegt. Mit seiner Hilfe wiederholt man eine Geste, die man seit der Romantik kennt: Subjektallmacht, nein danke! Wer „unverfügbar“ sagt, denkt jetzt an die kreatürliche Last im theologischen Sinn, die man durch keine Aufklärung, keine technische Entlastung abwälzen kann.

Raulff:

Es sind nicht nur Theologen, die so reden. Vergleichbares beobachten wir  bei Ästhetikern und Phänomenologen: Gumbrecht mit seiner Wiederbetonung der epiphanischen Präsenz, Karl Heinz Bohrer mit seiner Aufmerksamkeit auf den ästhetischen Augenblick – das sind ebenfalls Figuren von Unverfügbarkeit. Sie handeln von Instanzen, die sich nicht planen und herstellen lassen, von Augenblicken einer ergreifenden Präsenz, die entweder sich von selbst ergeben oder sich entziehen, ohne daß wir dagegen klagen könnten.

Sloterdijk:

Übrigens könnten sich beide, Gumbrecht und Bohrer, auf die stärkste „Schicksal“-Stelle der jüngeren deutschen Poesie berufen. In Rilkes achter Duineser Elegie hört man den Seufzer: „Und dieses heißt Schicksal: gegenüber sein und nichts als dies und immer gegenüber“. Dem folgt am Ende des Gedichts die Frage: „Wer hat uns also umgedreht, dass wir, was wir auch tun, in jener Haltung sind von einem, welcher fortgeht?“ Die Klage des Dichters bezieht sich darauf, daß für uns Menschen der Moderne, anders als für die stillen Tiere, die Welt nicht mehr die reine Offenheit bedeutet. Wir haben den Raum vor uns durch Projekte vollgestellt. Das Schicksal ist hier durch die existentielle Orthopädie des Menschen festgelegt. Die ist so gründlich mißglückt, daß wir für immer die Umgedrehten, die Weggehenden, die Präsenzunfähigen bleiben. Mir scheint, wir begegnen hier dem Schicksalsbegriff  in einer sanften, fast unschuldigen Wendung wieder, weil er eine tragische Mitgift der Zivilisation benennt, nicht triumphalisch, nicht masochistisch, sondern mit milder Melancholie. Heidegger kennt etwas von ferne Vergleichbares, wenn er über die Irre spricht, die vom menschlichen Aufenthalt in der Welt unabtrennbar sei.

Raulff:

Darf ich noch einmal auf den anderen Punkt zurückkommen: Gibt es für Sie eine Möglichkeit, den Schicksalsbegriff in ihre eigene Arbeit zu integrieren? Bei der Entwicklung Ihres Werkes, scheint mir, Sie sind ein paar Mal mit diesem Begriff fast direkt in Berührung geraten, von der „Kritik der zynischen Vernunft“ über den „Eurotaoismus“ bis zu „Du musst dein Leben ändern!“, aber Sie haben ihn nicht für sich aquiriert, wenn ich so sagen darf, Sie sind an ihm gewissermaßen gerade noch vorbeigekommen. Dennoch möchte ich fragen: Könnte Schicksal ein für Sie positiv interessanter Begriff sein?

Sloterdijk:

Ich würde sagen, die interessantesten Begriffe sind Begriffe außer Dienst.

Raulff:

Begriffe im Seniorenheim der Begriffsgeschichte?

Sloterdijk:

Ihre Zurückgezogenheit macht ihren Charme aus. Wenn sie ausgedient haben, finden alte Begriffe hin und wieder eine Anstellung in leichter Nebentätigkeit. Eben darauf käme es mir bei einer Neuverwendung des Schicksalsbegriffs an. Er müßte viel beiläufiger ins Spiel gebracht werden als zu seinen großen Zeiten, er sollte fast schwerelos werden. Ich denke in diesem Zusammenhang an eine Stelle bei Nietzsche, auf die ich auch sonst häufig zurückkomme, ich meine den Gesang „Vor Sonnenaufgang“ aus dem dritten Teil des Zarathustra. Die Szenerie ist imposant: Wie man es bei einem Propheten nicht anders erwartet, läuft Zarathustra schon im Morgengrauen übers Gebirge und hält, bevor die Sonne sich sehen läßt, Zwiesprache mit dem Himmel. Hier tauchen die entscheidenden Sätze auf – warten Sie, ich muß die Stelle suchen (blättert): „Wahrlich ein Segen ist’s und kein Lästern, wenn ich lehre, über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermut. ‚Von Ohngefähr’ – das ist der älteste Adel der Welt.“

Raulff:

Das ist sehr schön.

Sloterdijk:

„Den gab ich allen Dingen zurück, ich erlöste sie von der Knechtschaft unter dem Zwecke.“ An dieser Stelle könnte man unterbrechen und einen  Kommentar über den metaphysischen Gehalt der Formel „Knechtschaft unter dem Zweck“ einschieben – in ihrer stärksten  Ausgestaltung war die Schicksalsidee ja keine Improvisation für den Hausgebrauch an schlechten Tagen, sie war ein Weltprinzip, sie war das Werk des guten Grundes aller Dinge. Der philosophische Schicksalsbegriff trat am prunkvollsten in Form der spätantiken stoischen Haimarmene in Erscheinung, die so etwas wie die durchgreifende Vernunft der Kosmosregierung bezeichnete – im Mythos war die Haimarmene übrigens als die Tochte der Ananke bekannt gewesen. Von solchen Fiktionen der erhabenen Notwendigkeit im Lauf aller Dinge stößt Nietzsche sich ab, indem er den Zufall von der Leine läßt. „Ich erlöste sie von der Knechtschaft unter dem Zwecke… Diese Freiheit und Himmels-Heiterkeit stellte ich gleich azurner Glocke über alle Dinge, als ich lehrte, daß über ihnen und durch sie kein ‚ewiger Wille’ – will. Diesen Übermut und diese Narrheit stellte ich an die Stelle jenes Willens, als ich lehrte: ‚bei allem ist eins unmöglich –Vernünftigkeit!’ Ein wenig Vernunft zwar, ein Same der Weisheit zerstreut von Stern zu Stern – dieser Sauerteig ist allen Dingen eingemischt: um der Narrheit willen ist Weisheit allen Dingen eingemischt! Ein wenig Weisheit ist schon möglich; aber diese selige Sicherheit fand ich an allen Dingen: daß sie lieber noch auf den Füßen des Zufalls – tanzen.“

Diese Zeilen sind am Independence Day des modernen Denkens geschrieben – und wie es nicht anders sein kann, handeln sie von der Emanzipation des Zufälligen. Nietzsche setzt da und dort noch die metaphysische Blitz-und-Donner-Sprache ein, aber in der Sache ist schon die Umstellung auf das Kontingenzdenken vollzogen. Soviel bleibt heute vom guten alten Schicksal übrig: die Luhmannsche Doppelkontingenz. Ein System, in dem auch alles anders sein könnte, bezieht sich auf eine Umwelt, in der auch alles anders sein könnte.

Raulff:

Und das wäre jetzt auch Ihre Antwort?

Sloterdijk:

Prinzipiell ja, soweit die Emanzipation des Zufälligen gemeint ist. Doch ich liebe die Termini außer Dienst. Die antiquarischen Begriffe enthalten  Reichtümer, die man beim Entrümpeln des Speichers wie zufällig wiederentdeckt. Ein Wort wie „Schicksal“ ist in sich selber ein Archiv. Mir fällt der Satz Gottfried Benns ein: „Worte, Worte, Substantive – sie brauchen nur ihre Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug.“

Raulff:

Das finde ich wunderbar.

Sloterdijk:

Schicksal ist ein solches Wort, aus dessen Flug die Jahrtausende fallen.

Raulff:

Der Begriff ist ja in sich ein gigantischer Theorieroman, ein Roman vom Denken. Wir haben bisher nur ein paar Figuren aus der Kiste geholt, aber was dabei  zutage kam, ist schon erstaunlich.

Sloterdijk:

Wir haben eine Handvoll Beispiele für mythische und begriffliche Konzeptionen des Schicksalhaften in der okzidentalen Tradition angedeutet. Daneben ist nicht zu vergessen, daß es eine eigensinnige orientalische Theoriewelt gibt, namentlich die indische, die seit zweieinhalbtausend Jahren einen Begriff wie Karma besitzt. In dem verbirgt sich viel von dem, was Denker des Ostens über moralische Kausalitäten, langfristige Schuldzusammenhänge, Inkarnationszufälle, existentielle Ungleichheiten und ihre künftigen Kompensationen ersonnen oder in Erfahrung gebracht haben. Indien gehört zu einer Weltsphäre, die aufs ganze gesehen viel weniger technische und politische Freiheitsgrade kannte als die westliche. Sobald man sich auf seine Kultur einläßt, spürt man etwas von der Notwendigkeit, die dort herrscht, mit viel mehr Seele, viel mehr  Göttern, viel mehr Askese  auf die Umstände zu reagieren.

Raulff:

Heißt das nicht auch mit viel mehr Poesie?

Sloterdijk:

Gewiß, die Menschen der indischen Hemisphäre sind seit jeher zu einer starken Innenweltproduktion verurteilt, ganz wie die Menschen der verflossenen Zeit, als Europa noch das Abendland hieß. Der Weg ins Äußere war in diesem Weltzustand weitgehend blockiert, die externen Tatsachen wenig erheiternd. Nur enorme Leistungen an Askese und Umdichtung machen die Welt und das Leben erträglich. Um analogisch zu erklären, was ich meine, erinnere ich gern an die alteuropäische Überlieferung der Sternbilder, von denen die modernen Menschen fast nichts mehr wissen – sie kennen allenfalls noch den großen Wagen oder den Gürtel des Orion. In der Antike hatte jeder halbwegs Gebildete die 48 klassischen Sternbilder in petto, an denen jedesmal eine Unzahl von Geschichten hingen. Der alteuropäische von Sternbildern illustrierte Himmel war ein Zeugnis dafür, wie Menschen das Äußere mit Überschüssen aus ihren Innenwelten bekleideten. In diesem Weltzustand kommt dem Schicksalsbegriff eine enorme Bedeutung zu, weil er eine Art von Grammatik für das Umdichten von Glück und Unglück vorgibt. Ein einzelner Stern ist fürs erste nicht mehr als ein sinnloser Lichtpunkt, als Teil eines Sternbilds wird er zu einer Figur in einer Geschichte, einer jenseitigen Erscheinung, einer Konstellation. Und so fügt man auch sinnlos wirkende Zufälle in ein ad hoc gesponnenes Sinngewebe ein. Der Schicksalsbegriff deutet auf die Seelenarbeit, die notwendig wird, wenn man den Zufall in etwas Sinnvolles und Lebbares umdichten muß. Nur gut versicherte Menschen wie wir Modernen haben den Zufall emanzipieren können. Nur in der technischen Kultur konnte man mit so leichtem Seelengepäck reisen wie wir es uns angewöhnt haben. Die meisten Generationen vor uns besaßen diese Entlastungen nicht. Sie mußten versuchen, die Welt wie einen großen Teppich zu begreifen, dessen Muster man aufgrund seiner Größe nicht erkennt, von dem man aber unbedingt glauben will, daß es existiert. In seiner humansten Gestalt war der Schicksalsgedanke der Kernsatz des Glaubens, daß wir selber Fäden und Figuren in einer göttlichen Teppichweberei sind.