Gespräch

„Wir leben in einer Frivolitätsepoche“

Ein Gespräch mit dem Philosophen Peter Sloterdijk über die Finanzmarktkrise

Herr Sloterdijk, Ihr Buch „Im Weltinnenraum des Kapitals“ beschreibt die globale Ökonomie im Bild der Seefahrt. Ist das, was wir gegenwärtig erleben, ein gigantischer Schiffbruch?

Tatsächlich hat das schwebende Kapital für seinen Risikobegriff das Bild des Schiffbruchs. Der war schon ein Mittel der Kapitalvernichtung in früheren Globalisierungsjahrhunderten. Man schickte Schiffe hinaus, von denen man wusste, dass sie unter einem enormen Havarierisiko segeln. Bis heute lässt sich die Denkfigur des «Return on Investment» nautisch darstellen. Es ist die Vorstellung, dass die Schiffe, die man in den Ozean entsandt hat, auch wieder zurückkehren. Das Geld läuft um die Erde und kommt vermehrt wieder am Ausgangspunkt an. Was den Unternehmer betrifft, so steht er gewissermassen am Ufer und schaut in den Risikoraum hinaus. Die Vorsicht ist ja eigentlich die Unternehmertugend par excellence. Aber die moderne Gesellschaft beruht darauf, dass man das Risiko bejaht.

Viel Geld ist in den Untiefen der Derivate und Hypotheken versenkt worden.

Man müsste darüber nachdenken, ob die Metapher des Schiffbruchs für das, was heute mit grossen Vermögen geschieht, wirklich so handfest ist. Man hört ja die gut begründete Meinung, dass gar keine wirklichen Schiffe unterwegs waren, dass also überhaupt nichts Reales verschwindet, sondern dass nur die surrealen Bewertungen der letzten zehn Jahre revidiert werden müssen. Die riesenhaften Pseudovermögen, die sich angehäuft haben, werden dabei auf einen realistischen Massstab zurückkorrigiert. Bei der amerikanischen Hypothekenkrise ist es ja nicht so, dass die Häuser nicht mehr da wären. Die berühmten Realwerte sind noch alle da. Es spricht vieles dafür, dass sich nach der Anpassung des Geldvolumens an die realwirtschaftliche Basis die Dinge wieder in einem etwas erfreulicheren Modus einspielen könnten. Es gab einfach zuviel Geld, es gab falsche Vermögensberechnungen.

Viele sagen jetzt, sie hätten die grosse Krise kommen sehen.

Es gab schon in den letzten Jahren ganze Bataillons von Kassandren, die auf die Labilität der Finanzmärkte hingewiesen haben, aber wir lebten mitten in der Frivolitätsepoche. Das darf man nicht vergessen. Die Moderne ist ein Parallelogramm der Kräfte. Es gibt frivolisierende, leichtsinnig machende und damit den Konsum fördernde Kräfte. Und es gibt seriöse, down to earth orientierte Kräfte. Als die letzte grosse Frivolitätskonjunktur in Gang gewesen ist, so bis vor anderthalb Jahren, war einfach nicht die Stunde der Kassandren. Die Kassandren werden aber ohnehin nie gehört, weil das Menschenrecht auf Leichtsinn nicht abzuschaffen ist.

So mancher Wirtschaftsnobelpreisträger bezweifelt nach den Ereignissen der letzten Monate, dass man in seinem Fach mit einem herkömmlichen Begriff der Rationalität auskommen kann.

Wenn das so ist, würde ich dafür plädieren, dass die Nobelpreise zurückgegeben werden. Es ist wirklich die Stunde der Besinnung gekommen. Man muss die Wirtschaftswissenschaften als Wissenschaften vom Irrationalen rekonstruieren. Das ist die gleiche Situation wie damals, als zwischen Wien und Paris die tiefenpsychologischen Systeme entstanden sind, als etwa die Psychoanalyse begonnen hat, den Menschen als Animal irrationale zur erforschen. Etwas Ähnliches zeichnet sich heute auch in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften ab. Man beschreibt den Menschen zunehmend als Wesen, das sich eben nicht als vernünftiger Langzeitrechner verhält. Der Mensch lebt im Zeichen der Leidenschaften und der Nachahmung. Das sind beides für aufklärerisch gesinnte Menschen sehr zumutungsreiche Grundbeschreibungen. Wir wollen den Menschen ja vernünftig, selbstkontrolliert und originell. Es sind nicht die dümmsten Wirtschaftswissenschafter, die uns erklären, dass auf dem Markt der Opportunismus und damit die Nachahmung das Beste ist.

Braucht der Markt Regelungen? Ein Eingreifen der Staaten oder internationaler Finanzmarktbehörden?

Eine mögliche aber sozial tabuisierte Regelung würde darin bestehen, dass man die Krise aussteht und sie nicht eskamotiert. Im Augenblick aber stellen die Staatsleute so etwas wie die Business Angels dar. Der Begriff kommt aus dem amerikanischen Umfeld, wo man Start-up-Unternehmen in schwierigen Kreditsituationen und bei Know-How-Fragen unterstützt. Wir erleben jetzt die Stunde der Wahrheit, wo der Staat der einzig wirklich Reiche ist. Er tritt als Bürge für all die am Abgrund stehenden Unternehmen auf. Es ist allerdings ein kulturelles Problem, dass wir unsere Politiker so kleingezüchtet haben, dass sie mit den Problemen nicht staatsmännisch umgehen können. Der Staat hat in den letzten dreissig Jahren von sich selbst zu klein gedacht.

Die Krise ist längst in der Realwirtschaft angekommen, Jürgen Habermas beklagt in der „Zeit“ ihre „himmelschreiende soziale Ungerechtigkeit“. 

Diese Ungerechtigkeit lässt sich nur dadurch verstehen, dass der Staat in den letzten zwanzig, dreissig Jahren seine wahre Identität immer mehr vergessen hat. Ich glaube in der Zeit, als es eine echte Systemkonkurrenz gegeben hat, als ein drohfähiger Kommunismus existiert hat, konnten die westlichen Staaten nicht so frivol werden wie jetzt in den Zeiten des Neoliberalismus. Der Neoliberalismus beruht ja auf der Erfahrung, dass der Kommunismus in der Systemkonkurrenz unterlegen war. Bis dahin gab es im Westen die gemischte Wirtschaft. Das heisst, es gab einen starken Sozialstaat, und den Burgfrieden zwischen der Wirtschaft und dem Staat. Der Staatsmann wäre heute definitionsgemäss die Figur, die die sorgende Struktur des Staates vollständig erfasst hat. Und die auch einen klaren Blick auf das globale Szenario hat. Dass es nämlich in einer erfolgreichen modernen Wirtschaft nur so funktionieren kann, dass der Staat mit seiner Steuerhoheit die Ordnungs- und Umverteilungsaufgaben wahrnimmt. Entweder ist der Staat semisozialistisch oder er ist gar nicht, was er sein soll. So hart muss man das heute ausdrücken. Er kann natürlich nur im Bündnis mit einer starken und erfolgreichen kapitalistischen Ökonomie leben. Seine Betriebsgrundlage ist die Steuerhoheit. Wenn er in dieser Funktion hohe Erträge erwirtschaften kann, ist er in seinem Optimum. Aber dafür braucht er die starke Wirtschaft. Bei den verstaatlichten Betrieben des Kommunismus hat man gesehen: Hundert Prozent von Nichts sind auch Nichts.

Was kann die Politik tun, um eine Krise wie in den dreissiger Jahren zu verhindern?

Für die arbeitenden Menschen wird der Staat als Anwalt des Gemeinwesens etwas tun müssen. Und er kann das nur, wenn er seine Aufgabe als Steuersouverän ernst nimmt und die schwierige Balance findet zwischen dem Impuls, die Steuern und damit die Umverteilungsmasse zu erhöhen und dem Impuls, die Steuern zu senken, um die Wirtschaft anzukurbeln. Der Staat ist der dumme August, an dem die Kräfte zerren. Es ist eine zum Verzweifeln schwierige Aufgabe.

Es gibt altmodische Begriffe, die jetzt zu neuen Ehren kommen. Das „Gemeinwohl“ wäre so ein Wort.

Es ist der Grundbegriff, der jetzt wieder reaktiviert werden muss. Die Staatlichkeit ist die Organisation des Gemeinwohls. Die Briten haben den Commonwealth, das ist fast eine immunsystemische Konnotation, weil Gesundheit und Reichtum gleichermassen drinnenstecken. Die individualistische Erosion der Staatsidee hat aber dazu geführt dass es praktisch niemanden mehr gibt, der solche Aufgaben auch mit Autorität formulieren könnte.

Wie sehen sie die Rolle Barack Obamas, des neuen amerikanischen Präsidenten?

Ich glaube, er hat seine wertvollste Mission bereits erfüllt. Ein britischer Journalist hat die Sache auf den Punkt gebracht: Barack Obama hat die Welt schon durch seine Wahl verändert. Das ist ein performatives Phänomen gewesen. Jetzt muss er versuchen, den Karren aus dem Dreck zu ziehen, aber das ist eben Arbeit. Der psychologische Bonus, den er da ins Amt mitgebracht hat, wird sich radikal abschwächen. Er steht vor einem Gebirge von Problemen, und ob er so ein guter Kletterer ist, wie man hofft, lässt sich sehr schwer vorhersagen. Er hat den Kredit, dass man ihn eher für einen Problemlöser als für einen Problemschaffer hält.

Wird die Krise bei den ökonomischen Eliten ein Umdenken auslösen?

Man muss sich von einer simplen Psychologie der Gier lösen. Aus meinem persönlichen Umgang mit grossen Wirtschaftsleuten weiss ich, dass es dort eine sozialpsychologische Kehre gibt. Von einem bestimmten Vermögensvolumen an ändert sich die Persönlichkeit und der wohlhabende Mensch wechselt von der Gier zum Stolz.

Was Sie sagen gilt auch für die Oligarchen?

Es gibt auch einen Oligarchismus, der kläglich bleibt. Oder wie unsere Grossmütter gesagt haben: Ein reicher Mann ist nur ein armer Mann mit sehr viel Geld. Dieser Spruch trifft aber für die Menschen, die sich ihren Wohlstand zu Herzen genommen haben, nicht zu. Sie verwandeln sich von Nehmern in Geber. Sie wollen etwas gelten und so entstehen auch philanthropische, kulturelle Engagements. Den grossen Unternehmer sollte man doch nicht zu dicht an das Kleinbürgertum heranrücken. Warren Buffett und Bill Gates haben sich in einem Akt kathartischer Selbststeigerung von einem grossen Teil ihres Vermögens getrennt. Diese sozialen Engagements sind keine kleinbürgerlichen Gesten. Zwischen den ganz grossen Vermögen und einer aristokratischen Psyche besteht auch eine positive Korrelation. Das ändert nichts daran, dass die moderne Staatlichkeit sich in den Händen eines ziemlich bedrückten Kleinbürgertums befindet, das sich in den letzten Jahren vom grossen Geld zu sehr imponieren hat lassen.