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Schicksalfragen: Ein Roman vom Denken – I Karlsruher Gespräch

Ulrich Raulff im Dialog mit Peter Sloterdijk I  Karlsruher Gespräch Raulff: Herr Sloterdijk, vor einiger Zeit las ich in der FAZ einen Bericht von Ihrem Podiumsgespräch mit Heiner Geißler, das Sie aus Anlaß seines 80. Geburtstags Anfang März 2010 in Berlin geführt haben. Demnach brachten Sie den Begriff „Schicksal“ zweimal in Spiel – das ließ mich aufhorchen. Zum einen sollen Sie gesagt haben, das Luhmannsche Konzept von der „Ausdifferenzierung“ der Subsysteme sei der kühlste aller möglichen Hinweise auf die Macht des Schicksals: Komplexe soziale Systeme folgten der unausweichlichen Gesetzmäßigkeit selbstbezüglichen Funktionierens. Zum anderen führten Sie das Argument ins Feld, das Engagement des Westens in Afghanistan liefere den Beweis dafür, dass auch die moderne Welt dem Tragischen nicht entgeht. In diesem Kontext fiel ebenfalls das Wort Schicksal. Was ist damit gesagt? Inwiefern reden Sie von etwas anderem als von militärischem Versagen oder von einem Mangel an politischer Strategie? Sloterdijk: Afghanistan diente in meinem Argument als aktuelles Exempel für die Gesamtheit der Situationen, in denen Menschen, was immer sie tun, zum Fehlermachen verurteilt sind. Auch den Modernen …

Schicksalfragen: Ein Roman vom Denken – II Marbacher Gespräch

Ulrich Raulff im Dialog mit Peter Sloterdijk II  Marbacher Gespräch RAULFF Wir sollten heute, um unsere erste Zusammenkunft vor einigen Monaten  fortzuführen und zu ergänzen, über einige Motive reden, die damals nicht zur Sprache kamen. Ich denke da vor allem über die früh-neuzeitliche Schicksals-Emblematik, speziell die Fortuna mit all ihren Attributen, von denen jedes für sich genommen äußerst interessant ist… SLOTERDIJK .. und von denen jedes einzelne eine größere Ausstellung verdienen würde. Die klassischen Attribute der Fortuna  sind das Steuerruder, das Segel, das Rad mit seinen fallenden und steigenden Positionen, die Kosmoskugel, der Globus und seine Miniaturisierung zum Spielball und zur Lottokugel. Leider verschwendet heute kein Mensch noch einen Gedanken an die symbolischen Quellen der zahllosen Bälle, mit denen die aktuelle Massenkultur spielt. RAULFF Mit Ausnahme von Horst Bredekamp, der sich für die Spiele der Medici interessierte … SLOTERDIJK Ja, als einer der wenigen zeitgenössischen Bildwissenschaftler hat er diese Dinge ins Auge gefaßt. Aber die Ball-, und Kugel- und Sphären-Thematik im ganzen führt ein stiefmütterliches Dasein am Rande der offiziellen Aufmerksamkeitssysteme. RAULFF Woran liegt es? …

Das 21. Jahrhundert beginnt mit dem Debakel vom 19. Dezember 2009

Im Rahmen der Klimakonferenz in Kopenhagen war der Philosoph Peter Sloterdijk Gast des Louisiana Museums in Humlebæk. Dort hielt er im Rahmen eines Symposiums mit dem Titel „Where do we go from here?“, an dem Künstler, Wissenschaftler und Techniker aus aller Welt teilnahmen, die abschließende programmatische Rede zum Thema Klimawandel. Am Rande des Symposiums fand auch dieses Interview statt, das dann nach dem Ende der Klimakonferenz noch per E-Mail ergänzt wurde. Interviewt hat: Andrian Kreye / Quelle: Süddeutsche Zeitung SZ: Herr Sloterdijk, teilen Sie die allgemeine Enttäuschung über den Ausgang der Kopenhagener Klimakonferenz? Sloterdijk: Ja und nein. Unmittelbar enttäuscht bin ich nur von Barack Obama, da ich nicht geglaubt hätte, er würde es wagen, mit so leeren Händen nach Dänemark zu reisen. Allein von ihm hätte man eine größere Geste erwarten dürfen. Aber da sich alle übrigen Akteure wortgetreu an die Drehbücher des Nationalegoismus hielten, soll niemand behaupten, er sei enttäuscht. Man muss jetzt mehr denn je konstruktiv diabolisch denken und sich sagen, dieses Scheitern war das Beste, was uns passieren konnte. Immerhin weiß man …

«Zorn und Zeit»

Peter Sloterdijk, Gratulation zu Ihrem neuen Buch «Zorn und Zeit» – diese Weltgeschichte des Zorns und Ressentiments ist ein grosser Wurf. Zunächst gab es bei mir nur die Intuition, daß sich unter diesen Motiven ein riesige Lagerstättte an Einsichten verbirgt. Sobald sich diese Intuition konsolidiert hatte, schrieb sich das Buch von allein. Der Zorn ist wie Nietzsches „Abgrund“: Je mehr man in hinabschaut, desto fester blickt er zurück. Ihr Buch eröffnet einen Blickwechsel, weg vom Freudschen Eros, der zwar viel erklärte, aber auch große blinden Flecken hinterliess, hin zum Thymos, jener Kategorie, mit der die Griechen vom Stolz der Menschen wie von einer selbständigen Quelle positiver Energien sprachen. Gewiß, wir leben in einer Ära der Blickwechsel. Wir erleben gegenwärtig, wie sich die Bühne dreht, nicht zuletzt auf dem Gebiet der Psychologie, wo sich ein großer Paradigmenwechsel vollzieht, von der Psychoanalyse zur Neurobiologie. Natürlich versucht man auch schon Brückenschläge zwischen zwischen Altem und Neuem, aber das ändert nichts daran, daß man inzwischen auf einem radikal veränderten Spielfeld steht. Meine Hinwendung zum thymotischen Pol der menschlichen Psyche drückt auf ihre Weise ein stark verändertes Epochengefühl aus. Viele Menschen spüren, daß sie Zeugen einer Weltkrise sind. Im …

An der Pforte der Bedeutsamkeit

Philosophie als Zivilisationspädagogik Aus «der blaue reiter» Journal für Philosophie, Ausgabe 25 (1/2008) Herr Sloterdijk, Sie zählen zu den wenigen Philosophen, die auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt sind. Worauf führen Sie Ihren Erfolg zurück? Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube an den Erfolg oder seinen Anschein nur widerwillig oder, wenn Sie wollen, gar nicht. Die kulturelle Konstellation ist nicht mehr so, dass eine literarische oder eine philosophische Stimme, die unverkennbar hochkulturell gefärbt ist, in der heutigen Medien- und Kulturlandschaft wirklich erfolgreich sein kann. Im heutigen Milieu hat das Auseinanderdriften der populärkulturellen und hochkulturellen Felder ein solches Maß an Entfremdung zwischen den Bereichen hervorgerufen, dass es Grenzgänger kaum noch geben kann. Ja, dass überhaupt noch eine Art Verkehr stattfindet, ist schon das Erstaunliche, und das liefert wohl die Begründung für das, was Sie meinen Erfolg nennen. Aber sehen wir die Dinge aus der Nähe an: Wenn man von einem philosophischen Buch knapp 40.000 Exemplare verkauft, wie es zum Beispiel bei meinem vorletzten Buch Zorn und Zeit der Fall war, ist es zwar nach den Kriterien des …