Autor: Peter Sloterdijk

Bayreuther Assoziationen

1 „Oh wer erzählt uns die ganze Geschichte der Narkotika! – es ist beinahe die Geschichte der „Bildung“, der sogenannten höheren Bildung!“ Nietzsches gelehrter Seufzer, mit Blick auf das Theater gesprochen, 1882 publiziert, gehört zu den skizzenhaft gebliebenen großen Sätzen, die auf ihre Entwicklung so lange warten mußten, bis schließlich der günstige Augenblick verpaßt war. Gehemmt wurde die Entfaltung von Nietzsches Intuition ohne Zweifel durch das kulturweit lautstarke Echo auf den sinnverwandten, sehr viel grobschlächtigeren Ausspruch, mit welchem Marx 1844 die Religion als das Opium des Volkes bezeichnete hatte. Hätte man die beiden Sätze rechtzeitig nebeneinander oder übereinander gelegt, was hätte die Kulturwissenschaft für einen Sprung nach vorn vollziehen können! Man würde bemerkt haben, daß beide Beobachtungen aus der gleichen Matrix stammen. Sie gehören, die eine wie die andere, in das nach-metaphysische Zwielicht des 19. Jahrhunderts, in dem sich die Idee und die Materie auf neue Weise miteinander einließen. Eine unerhörte Toxikologie der Zivilisation kündigte sich an, prekär und ihrerseits alles andere als ungiftig. Vergiften, zersetzen, denken: Das alte Zusammengesetzte, das wir jetzt ironisch „Kultur“ …

Schicksalfragen: Ein Roman vom Denken – I Karlsruher Gespräch

Ulrich Raulff im Dialog mit Peter Sloterdijk I  Karlsruher Gespräch Raulff: Herr Sloterdijk, vor einiger Zeit las ich in der FAZ einen Bericht von Ihrem Podiumsgespräch mit Heiner Geißler, das Sie aus Anlaß seines 80. Geburtstags Anfang März 2010 in Berlin geführt haben. Demnach brachten Sie den Begriff „Schicksal“ zweimal in Spiel – das ließ mich aufhorchen. Zum einen sollen Sie gesagt haben, das Luhmannsche Konzept von der „Ausdifferenzierung“ der Subsysteme sei der kühlste aller möglichen Hinweise auf die Macht des Schicksals: Komplexe soziale Systeme folgten der unausweichlichen Gesetzmäßigkeit selbstbezüglichen Funktionierens. Zum anderen führten Sie das Argument ins Feld, das Engagement des Westens in Afghanistan liefere den Beweis dafür, dass auch die moderne Welt dem Tragischen nicht entgeht. In diesem Kontext fiel ebenfalls das Wort Schicksal. Was ist damit gesagt? Inwiefern reden Sie von etwas anderem als von militärischem Versagen oder von einem Mangel an politischer Strategie? Sloterdijk: Afghanistan diente in meinem Argument als aktuelles Exempel für die Gesamtheit der Situationen, in denen Menschen, was immer sie tun, zum Fehlermachen verurteilt sind. Auch den Modernen …

Schicksalfragen: Ein Roman vom Denken – II Marbacher Gespräch

Ulrich Raulff im Dialog mit Peter Sloterdijk II  Marbacher Gespräch RAULFF Wir sollten heute, um unsere erste Zusammenkunft vor einigen Monaten  fortzuführen und zu ergänzen, über einige Motive reden, die damals nicht zur Sprache kamen. Ich denke da vor allem über die früh-neuzeitliche Schicksals-Emblematik, speziell die Fortuna mit all ihren Attributen, von denen jedes für sich genommen äußerst interessant ist… SLOTERDIJK .. und von denen jedes einzelne eine größere Ausstellung verdienen würde. Die klassischen Attribute der Fortuna  sind das Steuerruder, das Segel, das Rad mit seinen fallenden und steigenden Positionen, die Kosmoskugel, der Globus und seine Miniaturisierung zum Spielball und zur Lottokugel. Leider verschwendet heute kein Mensch noch einen Gedanken an die symbolischen Quellen der zahllosen Bälle, mit denen die aktuelle Massenkultur spielt. RAULFF Mit Ausnahme von Horst Bredekamp, der sich für die Spiele der Medici interessierte … SLOTERDIJK Ja, als einer der wenigen zeitgenössischen Bildwissenschaftler hat er diese Dinge ins Auge gefaßt. Aber die Ball-, und Kugel- und Sphären-Thematik im ganzen führt ein stiefmütterliches Dasein am Rande der offiziellen Aufmerksamkeitssysteme. RAULFF Woran liegt es? …

Letzte Ausfahrt Empörung

Über Bürgerausschaltung in Demokratien Wann immer Politiker und Politologen sich über den Zustand einer modernen res publica Gedanken machen, drängen Reminiszenzen an das alte Rom sich auf. Das widerfuhr auch jüngst dem glücklosen deutschen Außenminister, als er, um den in seinen Augen allzu üppigen Sozialstaat unseres Landes zu kritisieren, auf den Gedanken verfiel, die heutigen Verhältnisse mit den Niederungen der „römischen Dekadenz“ zu vergleichen. Welche Vorstellungen er hiermit verband, konnte nie genau ermittelt werden. Vielleicht waren dem Gast an der Spitze des Auswärtigen Amts vage Erinnerungen an das System des kaiserzeitlichen Plebs-Managements durch Gladiatorenspiele in den Sinn gekommen, möglicherweise dachte er auch an die obligatorischen Getreidespenden für die arbeitslosen Massen der antiken Metropole. Beides wären Nachklänge des hastigen Geschichtsunterrichts, den die meisten deutschen Gymnasiasten des Jahrgangs 1961 (Westerwelle u. a.) genossen. Sie enthalten nichts, was zu Besorgnis Anlaß gäbe. Immerhin, der Hinweis auf die „römische Dekadenz“ im Mund eines deutschen Politikers war nicht nur ein Symptom von standesgemäßer Halbbildung. Er war auch nicht bloß ein Symptom von verbalem Draufgängertum, das bei einer gewissen Klientel Eindruck …