Autor: Peter Sloterdijk

Wie groß ist „groß“?

I „Wie groß können wir denken?“ Buckminster Fuller1 Auch Metaphern haben ihre Schicksale. Als Buckminster Fuller 1969 seine berühmte „Betriebsanleitung für das Raumschiff Erde“ publizierte, machte er die kühne, ja utopische Annahme, in den sozialen Systemen sei die Zeit reif geworden für eine Übergabe der Steuerungskompetenzen  von den Politikern und Finanziers zu den Designern, Ingenieuren und Künstlern. Die Annahme beruhte auf der Diagnose, wonach die Angehörigen der ersten Gruppe – wie alle „Spezialisten“ – immer nur durch ein kleines Loch auf die Realität blicken, das ihnen nicht mehr als einen Ausschnitt zu sehen erlaubt. Indessen entwickelten die letzteren von Berufs wegen holistische Ansichten und bezögen sich auf das Panorama der Realität im ganzen. Es war, als hätte die romantische Devise „die Phantasie an die Macht!“ den Atlantik überquert und wäre an der anderen Küste als die Parole „das Design an die Macht“ entschlüsselt worden. Die Kühnheit von Buckminster Fullers Publikation, die bald zu einer Bibel der „Gegenkultur“, nachmals der Alternativen wurde, zeigte sich nicht in seiner Verachtung für die scheinbar Großen und Mächtigen der Welt, …

Der Heilige und der Hochstapler

Von der Krise der Wiederholung in der Moderne Der Erfolg von Kulturen misst sich am Willen zur Wiederholung. Insofern sind Kulturen Träger von Replikationskompetenz. Mit den geschichtsbekannten Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist dieses Modell problematisch geworden. Orgien der Destruktion rufen nicht nach Ihresgleichen. Als radikalste Absage an alle Formen alteuropäischer Seriosität lässt sich die Dada-Bewegung beschreiben. An ihrem Ende stehen mit dem Heiligen und dem Hochstapler zwei Phänotypen, von denen letzterer unter den Bedingungen einer entfalteten Mediengesellschaft eine beachtliche Karriere gemacht hat. Sein Terrain ist das Plagiat. SWR2 Essay – MANUSKRIPT ZUM DOWNLOAD

Laudatio auf Götz Werner

Anläßlich seiner Aufnahme in die Hall of Fame des manager magazins, Kronberg im Taunus, 13. Juni 2012 M. D. u. H., wir alle wissen, üblicherweise haben Vergnügen und Ehre verschiedene Termine. Wenn es um Ehrungen und schwerfällige Zeremonien geht, schlägt sich das Vergnügen meist lieber in die Büsche. Heute haben die beiden Empfindungen eine ihrer seltenen Verabredungen. Es ist mir eine Ehre und ein Vergnügen zugleich, vor diesem eminenten Kreis einige Worte zur Würdigung des großen Unternehmers Götz Werner vortragen zu dürfen, den manche Zeitgenossen in der Eile als einen Philanthropen etikettieren. Für alle, die sich mit dem Werk und den Ideen des Laureatus vertraut gemacht haben, liegt freilich auf der Hand, daß das Phänomen Werner mit dem Wort „Philanthropie“ nur oberflächlich bezeichnet ist. In Wahrheit ist Götz Werners Lebenswerk nicht nur ein Zeugnis der Zuneigung zum Menschen, wie das Wort „Philanthrop“ nahelegt – es ist vielmehr die Verkörperung einer Vision, aus welcher der Mensch selbst, als Subjekt und Gegenstand einer tiefreichenden Zuneigung, in seinem Verhältnis zu sich selbst mitsamt seinem sozialen Feld verändert hervorgeht. Doch bevor ich mich der Aufgabe zuwende, einige Worte des Lobes und der Anerkennung für den …

Das 21. Jahrhundert beginnt mit dem Debakel vom 19. Dezember 2009

Im Rahmen der Klimakonferenz in Kopenhagen war der Philosoph Peter Sloterdijk Gast des Louisiana Museums in Humlebæk. Dort hielt er im Rahmen eines Symposiums mit dem Titel „Where do we go from here?“, an dem Künstler, Wissenschaftler und Techniker aus aller Welt teilnahmen, die abschließende programmatische Rede zum Thema Klimawandel. Am Rande des Symposiums fand auch dieses Interview statt, das dann nach dem Ende der Klimakonferenz noch per E-Mail ergänzt wurde. Interviewt hat: Andrian Kreye / Quelle: Süddeutsche Zeitung SZ: Herr Sloterdijk, teilen Sie die allgemeine Enttäuschung über den Ausgang der Kopenhagener Klimakonferenz? Sloterdijk: Ja und nein. Unmittelbar enttäuscht bin ich nur von Barack Obama, da ich nicht geglaubt hätte, er würde es wagen, mit so leeren Händen nach Dänemark zu reisen. Allein von ihm hätte man eine größere Geste erwarten dürfen. Aber da sich alle übrigen Akteure wortgetreu an die Drehbücher des Nationalegoismus hielten, soll niemand behaupten, er sei enttäuscht. Man muss jetzt mehr denn je konstruktiv diabolisch denken und sich sagen, dieses Scheitern war das Beste, was uns passieren konnte. Immerhin weiß man …

Die Revolution der gebenden Hand

Die kapitalismuskritische Linke definiert das Eigentum als Diebstahl. Der größte Nehmer ist aber der moderne Staat. Wir leben in einem steuerstaatlich zugreifenden Semi-Sozialismus – und niemand ruft zum fiskalischen Bürgerkrieg auf. Am Anfang aller ökonomischen Verhältnisse stehen, wenn man den Klassikern glauben darf, die Willkür und die Leichtgläubigkeit. Rousseau hat hierüber in dem berühmten Einleitungssatz zum zweiten Teil seines Diskurses über die Ungleichheit unter den Menschen von 1755 das Nötige erklärt: „Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: Das gehört mir!, und der Leute fand, die einfältig (simples) genug waren, ihm zu glauben, ist der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft (société civile).“ Demnach beginnt, was wir das „Wirtschaftsleben“ nennen, mit der Fähigkeit, einen überzeugenden Zaun zu errichten und das eingehegte Terrain durch einen autoritativen Sprechakt unter die Verfügungsgewalt des Zaun-Herrn zu stellen: Ceci est à moi. Der erste Nehmer ist der erste Unternehmer – der erste Bürger und der erste Dieb. Er wird unvermeidlich begleitet vom ersten Notar. Damit so etwas wie überschussträchtige Bodenbewirtschaftung in Gang kommt, …